- Kapitel 1: Die TĂźr
- Kapitel 2: Nachforschung nach Hyde
- Kapitel 3: Dr. Jekylls GemĂźtsruhe
- Kapitel 4: Der Mord
- Kapitel 5: Der Brief
- Kapitel 6: Eine merkwĂźrdige Mitteilung von Dr. Lanyon
- Kapitel 7: Am Fenster
- Kapitel 8: Die letzte Nacht
- Kapitel 9: Dr. Lanyons Bericht
- Kapitel 10: Henry Jekylls vollständiger Bericht ßber den Fall
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Kapitel 1: Die TĂźr
Rechtsanwalt Utterson war ein Mann mit bärbeiĂigem Gesicht, das niemals von einem Lächeln erhellt wurde; kalt, wortkarg und verlegen im Gespräch; schwerfällig in seinen GefĂźhlen; hager, lang, ein verstaubter, trauriger Mensch, und dabei doch in gewisser Weise liebenswĂźrdig. Bei freundschaftlichen ZusammenkĂźnften und wenn der Wein nach seinem Geschmack war, strahlte etwas eminent Menschliches aus seinen Augen â etwas Menschliches, das sich allerdings niemals in seinen Worten zeigte, sich aber nicht nur in diesen stummen Symbolen eines Nachtischgesichtes aussprach, sondern häufiger und laut und deutlich in den Handlungen seines Lebens. Er war strenge gegen sich selbst; trank, wenn er allein war, Gin, um einen Geschmack fĂźr edle Weine zu bekämpfen; und obwohl er das Theater liebte, war er seit zwanzig Jahren nicht Ăźber die Schwelle eines solchen gekommen. Aber ihm war eine erprobte Duldsamkeit anderen Menschen gegenĂźber eigen; manchmal erstaunte er, beinahe mit einer Art von Neid, Ăźber den hochgespannten Geisteszustand, der sich in ihren Missetaten aussprach; und in jeder gefährlichen Lage, in die solche Menschen gerieten, war er mehr geneigt, ihnen zu helfen, als sie zu verdammen.
ÂťIch neige zu Kains Ketzereien,ÂŤ lautete ein barockes Wort von ihm, das er gelegentlich zu gebrauchen pflegte: ÂťIch lasse meinen Bruder auf seine eigene Art und Weise zum Teufel gehen.ÂŤ
Bei solcher Charakteranlage war es ihm häufig beschieden, daĂ er der letzte in Achtung stehende Bekannte von Menschen war, mit denen es bergab ging, und daĂ er den letzten guten EinfluĂ auf solche Menschen ausĂźbte. Und solange sie in seinem Hause verkehrten, zeigte er in seinem Benehmen gegen sie niemals eine Spur von einer Ănderung.
Ohne Zweifel fiel ein solches Verhalten Herrn Utterson nicht schwer; denn er war sicherlich ein kĂźhler Mensch, und sogar seine Freundschaften schienen auf einer ähnlichen gutmĂźtigen GleichgĂźltigkeit zu beruhen. Es ist das Kennzeichnen eines bescheidenen Menschen, wenn er seinen Freundeskreis fix und fertig aus den Händen der Gelegenheit entgegennimmt; und dies war bei dem Rechtsanwalt der Fall. Seine Freunde waren entweder Blutsverwandte oder die Menschen, die er am längsten gekannt hatte; seine Zuneigungen wuchsen wie Efeu mit der Zeit, sie bedeuteten nicht, daĂ der Gegenstand besonders geeignet war. So war auch ohne Zweifel die Freundschaft zu erklären, die ihn mit einem entfernten Verwandten, dem allgemein bekannten Lebemann Richard Enfield, verband. Es war fĂźr viele Leute eine harte NuĂ zu knacken, was diese beiden miteinander verbinden kĂśnnte, oder welche Interessen sie gemeinsam haben kĂśnnten. Von Leuten, die ihnen auf ihren Sonntagsspaziergängen begegnet waren, wurde berichtet, daĂ sie nicht sprächen, auĂerordentlich gelangweilt aussähen und mit sichtlicher Erleichterung das Erscheinen eines Freundes begrĂźĂten. Trotz alledem legten die beiden Herren den grĂśĂten Wert auf diese Spaziergänge, schätzten sie als das grĂśĂte Kleinod jeder Woche und lehnten ihretwegen nicht nur gesellige VergnĂźgungen ab, sondern setzten sogar geschäftliche Verpflichtungen hintenan, um den ununterbrochenen GenuĂ eines solchen Beisammenseins zu haben. Bei einer dieser Streifereien geschah es, daĂ ihr Weg sie durch eine NebenstraĂe in einem verkehrsreichen Londoner Viertel fĂźhrte. Die StraĂe war klein und, wie man das nennt, ruhig; aber an den Wochentagen herrschte in ihr ein lebhafter Geschäftsverkehr. Die Anwohner waren dem Anschein nach alle wohlhabend und alle von eifriger Hoffnung erfĂźllt, es zu noch grĂśĂerem Wohlstand zu bringen, und benutzten den ĂberschuĂ ihrer Gewinne zu koketten AusschmĂźckungen ihrer Geschäfte, so daĂ die Schaufenster in dieser StraĂe etwas Einladendes hatten, wie eine Reihe lächelnder Verkäuferinnen. Sogar Sonntags, wenn die StraĂe ihre sonst schmucker blĂźhenden Reize verhĂźllte und verhältnismäĂig menschenleer dalag, stach sie von ihrer schäbigen Nachbarschaft ab, wie ein Feuer in einem Walde; mit ihren frischgemalten Fensterläden, blankgeputzten Messingzieraten und mit ihrer allgemeinen Sauberkeit und Heiterkeit war sie sofort dem Auge des VorĂźbergehenden ein wohlgefälliger Anblick. Zwei TĂźren von der Ecke ab, zur linken Hand in Ăśstlicher Richtung, wurde die Häuserreihe durch den Eingang zu einem Hof unterbrochen; und gerade an dieser Stelle drängte ein finster aussehendes Gebäude seinen Giebel auf die StraĂe vor. Es war zwei Stockwerke hoch, hatte kein einziges Fenster, sondern weiter nichts als eine TĂźr im ErdgeschoĂ und eine blinde Stirn von schmutziger Mauer im oberen Stock, und trug in jedem Zug die Merkmale einer langen, schmutzigen Vernachlässigung. Die TĂźr, die weder mit einer Glocke noch mit einem Klopfer ausgerĂźstet war, war rissig und fleckig. Strolche schlotterten in diesen Winkel hinein und strichen an der TĂźr ihr ZĂźndholz an; Kinder spielten auf den Treppenstufen Kaufladen; der Schuljunge hatte an den Holzpfeilern sein Messer versucht; und beinahe eine Generation hindurch war niemals ein Mensch erschienen, um diese gelegentlichen Besucher fortzujagen oder ihre VerwĂźstungen auszubessern.
Enfield und der Rechtsanwalt gingen auf der anderen Seite dieser NebenstraĂe; als sie aber der HoftĂźr gegenĂźber waren, hob Enfield seinen Stock und zeigte Ăźber die StraĂe hinĂźber und fragte:
ÂťHaben Sie jemals die TĂźr bemerkt?ÂŤ Und als sein Begleiter diese Frage bejahte, fuhr er fort: ÂťSie ist in meiner Erinnerung mit einer sehr sonderbaren Geschichte verknĂźpft.ÂŤ
So? sagte Utterson mit einer kleinen Veränderung in der Stimme, und wie war das?
ÂťTja, das war so: Ich kam von irgendeiner Gesellschaft am anderen Ende der Welt nach Hause; es war ungefähr drei Uhr an einem schwarzen Wintermorgen, und mein Weg fĂźhrte durch einen Stadtteil von London, wo buchstäblich nichts weiter zu sehen war, als Laternen. StraĂe auf StraĂe, und alle Leute im Schlaf â StraĂe auf StraĂe, alle hell erleuchtet wie fĂźr eine Prozession und alle so leer wie eine Kirche â bis ich zuletzt in jene Geistesverfassung geriet, in der man horcht und horcht und sich nach dem Anblick eines Schutzmanns zu sehnen beginnt. PlĂśtzlich sah ich zwei Gestalten: die eine war ein kleiner Mann, der in rĂźstigem Schritt nach Osten stampfte, die andere ein Mädchen von vielleicht acht oder zehn Jahren, das so schnell es nur konnte eine QuerstraĂe herabrannte. Nun, die beiden liefen an der Ecke gegeneinander an, das war ja ganz natĂźrlich; dann aber kam das Schreckliche, Grausige: der Mann trampelte ganz ruhig dem Kind auf den Leib und lieĂ es schreiend am Boden liegen. Wenn man es so hĂśrt, klingt es nach nichts. Aber anzusehen war es hĂśllisch. Es war, wie wenn nicht ein Mensch das getan hätte, sondern ein teuflischer GĂśtze, ein Juggernaut, der mit seinen Wagenrädern Ăźber Menschenleiber dahinfährt. Ich schrie unwillkĂźrlich laut auf, rannte herzu, packte den feinen Herrn am Kragen und schleppte ihn an die Stelle zurĂźck, wo sich bereits eine ganze Gruppe um das schreiende Mädchen gebildet hatte. Er war vollkommen kĂźhl und leistete keinen Widerstand; aber er warf mir einen einzigen Blick zu, einen so gräĂlichen Blick, daĂ mir der SchweiĂ ausbrach und Ăźber den Leib lief. Die Leute, die herbeigelaufen waren, waren die eigenen AngehĂśrigen des Mädchens; und sehr bald erschien auch der Doktor, den zu holen das Kind ausgeschickt worden war. Na, dem Kind war nicht viel geschehen; es war mehr der Schreck, wie der Pflasterkasten sagte; und somit hätte man annehmen kĂśnnen, die Geschichte wäre zu Ende. Aber es war ein sonderbarer Umstand dabei. Ich hatte auf den ersten Anblick einen Ekel vor diesem Herrn empfunden. Dasselbe war mit den AngehĂśrigen des Kindes der Fall, was auch ganz natĂźrlich war. Aber was mir auffiel, war das Benehmen des Doktors: es war die Ăźbliche Sorte von einem trockenen Apotheker, von unbestimmtem Alter und keiner besonderen Farbe, der mit einem starken Edinburgher Akzent sprach und ungefähr so gefĂźhlvoll war wie ein Dudelsack. Na, ich sage Ihnen: der war geradeso wie die anderen alle! Jedesmal, wenn er meinen Gefangenen ansah, bemerkte ich, daĂ der Pflasterkasten ganz wild wurde und kreideweiĂ vor Lust, den Mann totzuschlagen. Ich wuĂte, was in seinem Sinn vorging, genau so, wie er wuĂte, was ich fĂźhlte; und da Totschlagen nicht in Frage kam, so taten wir das, was dem am nächsten kam. Wir sagten dem Mann: wir kĂśnnten und wĂźrden aus dieser Geschichte einen solchen Skandal machen, daĂ sein Name von einem Ende Londons zum anderen stinken wĂźrde. Wenn er Ăźberhaupt Freunde und Kredit hätte, so wĂźrden wir dafĂźr sorgen, daĂ er diese und diesen verlieren wĂźrde. Und die ganze Zeit Ăźber, während wir uns in glĂźhende EntrĂźstung redeten, muĂten wir die Weiber von ihm abhalten, so gut wir konnten, denn die waren so wild wie Furien. Niemals habe ich einen Kreis von solchen haĂerfĂźllten Gesichtern gesehen; und mitten in diesem Kreise stand der Mann mit einer Art von finsterer, hĂśhnisch lächelnder KĂźhle â auch geängstigt, das konnte ich wohl sehen â aber seine Haltung bewahrend, wahrhaftig, Utterson, wie Satan. âşWenn Sie belieben, aus diesem Zufall Kapital schlagen zu wollen,âš sagte er, âşso bin ich natĂźrlich machtlos. Es gibt keinen Gentleman, der nicht vor allen Dingen eine Szene zu vermeiden wĂźnscht. Nennen Sie Ihre Summe.âš Nun, wir schraubten ihn nach und nach bis zu hundert Pfund hinauf, die er an des Mädchens Familie zahlen sollte; offenbar hätte er am liebsten sich gesträubt, aber die Aufregung der ganzen Menschenansammlung war so groĂ, daĂ er schlieĂlich sah, das Ding wĂźrde gefährlich, und so gab er denn zuletzt klein bei. Das Nächste war nun, das Geld herbeizuschaffen; und was meinen Sie, wohin er uns fĂźhrte? Hier nach dieser Stelle mit der TĂźr! Holte einen SchlĂźssel aus der Tasche, ging hinein und kam sofort wieder mit ungefähr zehn Pfund in Gold und fĂźr den Rest mit einem Scheck auf Couths, zahlbar an den Vorzeiger und unterzeichnet mit einem Namen, den ich nicht nennen darf â obgleich er allerdings bei meiner Geschichte wichtig ist; nur soviel: es war ein sehr wohl bekannter Name, den man oft in den Zeitungen gedruckt sieht. Es war ein ordentliches StĂźck Geld; aber die Unterschrift war auch fĂźr mehr gut, wenn sie nur echt war. Ich nahm mir die Freiheit, dem Herrn anzudeuten, daĂ die ganze Geschichte märchenhaft erscheine, daĂ im wirklichen Leben ein Mensch nicht um vier Uhr morgens in eine KellertĂźr hineingehe und mit dem Scheck eines anderen Menschen im Betrage von beinah hundert Pfund wieder herauskomme. Aber er war ganz unbefangen und lächelte nur hĂśhnisch. âşBeruhigen Sie sich nur,âš sagte er, âşich werde bei Ihnen bleiben, bis die Bank geĂśffnet wird, und werde dann den Scheck selber einkassieren.âš So gingen wir denn alle miteinander los: der Doktor und der Vater des Mädchens und unser Freund und ich, und brachten den Rest der Nacht in meiner Wohnung zu. Und am anderen Morgen frĂźhstĂźckten wir erst und gingen dann alle miteinander zur Bank. Ich gab den Scheck selber ab und sagte, ich hätte allen Grund anzunehmen, daĂ er gefälscht wäre. Keine Spur! Der Scheck war echt!ÂŤ

ÂťOh, oh!ÂŤ sagte Utterson.
ÂťIch sehe. Sie fĂźhlen ganz wie ich,ÂŤ sagte Enfield. ÂťJa, es ist eine bĂśse Geschichte. Denn mein Mann war ein Bursche, mit dem kein anständiger Mensch was zu tun haben kĂśnnte, ein richtiger Galgenvogel. Und die Person, die den Scheck ausstellte, ist die BlĂźte der Wohlanständigkeit, ist sogar ein berĂźhmter Mann und ist â was das schlimmste dabei ist â einer von euren Leuten, die â wie man das nennt â Gutes tun. Erpressung â vermute ich. Ein anständiger Mensch bezahlt wohl oder Ăźbel fĂźr irgendwelche BocksprĂźnge seiner Jugendjahre. Das Erpresserhaus nenne ich infolgedessen dieses Gebäude mit der TĂźr. â Aber freilich â auch das erklärt ja die Geschichte noch nicht annähernd,ÂŤ setzte er hinzu, und mit diesen Worten versank er in ein nachdenkliches Schweigen. Aus diesem rief Utterson ihn wieder zu sich, indem er ziemlich plĂśtzlich fragte:
ÂťUnd Sie wissen nicht, ob der Aussteller des Schecks in dem Hause hier wohnt?ÂŤ
Es sieht nicht so recht danach aus, was? antwortete Enfield. Aber ich habe mir zufällig seine Adresse gemerkt; er wohnt an irgendeinem Platz.
Und Sie erkundigten sich niemals nach ⌠dem Gebäude mit der Tßr?
ÂťNein, Utterson. Mein ZartgefĂźhl hielt mich davon ab. Ich habe Ăźberhaupt eine starke Abneigung gegen Fragestellen; es erinnert zu sehr an den Tag des JĂźngsten Gerichts. Man rĂźhrt an eine Frage, und es ist, wie wenn man im Gebirge an einen Stein stĂśĂt. Man sitzt ruhig oben auf einem Berg, und da saust der Stein los und reiĂt andere mit; und plĂśtzlich kriegt ein gutmĂźtiges altes Männchen â an das man gewiĂ niemals gedacht hätte â in seinem eigenen Hausgärtchen einen von den Steinen auf den Kopf, und der schmeiĂt ihn um, und es kommt eine bĂśse alte Geschichte heraus, und seine AngehĂśrigen mĂźssen ihren Namen ändern. Nein, Utterson â ich mach es mir zur Regel: je mehr etwas nach Spitzbubenkram aussieht, desto weniger frage ich!ÂŤ
ÂťEine sehr gute Regel,ÂŤ sagte der Rechtsanwalt.
ÂťAber ich habe selber um das Gebäude herumgespĂźrt,ÂŤ fuhr Enfield fort. ÂťEs scheint kaum ein Haus zu sein. Eine andere TĂźr ist nicht vorhanden, und kein anderer Mensch geht ein oder aus als â in groĂen Zwischenräumen einmal â der Gentleman, mit dem ich das Abenteuer hatte. Im ersten Stock sind drei Fenster nach dem Hof hinaus; unten ist keins; die Fenster sind stets geschlossen, aber sauber. Und dann ist ein Schornstein da, der gewĂśhnlich raucht; es muĂ also jemand dort wohnen. Und doch ist das nicht so sicher; denn die Gebäude um jenen Hof herum sind so ineinander geschoben, daĂ es schwer zu sagen ist, wo das eine aufhĂśrt und das andere anfängt.ÂŤ
Die beiden gingen eine Weile schweigend weiter; Dann sagte Utterson:
ÂťEnfield, Sie haben da eine gute Regel.ÂŤ
ÂťJa, ich glaube auch.ÂŤ
ÂťAber bei alledemÂŤ, fuhr der Anwalt fort, Âťist da noch ein Punkt, nach dem ich fragen mĂśchte: ich mĂśchte wissen, wie der Mann hieĂ, der auf dem Kind herumtrampelte.ÂŤ
ÂťNun, ich sehe nicht, was das schaden kĂśnnte. Es war ein Mann namens Hyde.ÂŤ
ÂťHm,ÂŤ sagte Utterson; Âťwie sieht der wohl aus?ÂŤ
ÂťEr ist nicht leicht zu beschreiben. In seinem ĂuĂeren stimmt irgend etwas nicht. Ich sah niemals einen Menschen, der mir so zuwider war â und doch weiĂ ich kaum, warum. Er muĂ irgendwo an seinem Leibe verkrĂźppelt sein. Er macht sofort den Eindruck, verwachsen zu sein, obgleich ich eine bestimmte Stelle nicht bezeichnen kĂśnnte. Er ist ein ganz auffallend aussehender Mann, und doch kann ich tatsächlich nichts AuĂergewĂśhnliches an ihm bezeichnen. Nein, Utterson, ich kann’s nicht ausdrĂźcken, ich kann ihn nicht beschreiben. Nicht etwa, weil ich mich deutlich erinnere â denn ich versichere Ihnen, ich sehe ihn in diesem Augenblick vor mir.ÂŤ
Utterson ging wieder ein StĂźck schweigend weiter; offenbar drĂźckte ihn ein Gedanke.
ÂťSie sind sicher, daĂ er einen SchlĂźssel benutzte?ÂŤ fragte er schlieĂlich.
ÂťMein lieber Utterson âŚÂŤ rief Enfield, ganz Ăźber die MaĂen erstaunt.
ÂťJa, ich weiĂ,ÂŤ sagte Utterson, Âťes muĂ sonderbar erscheinen. Es ist Tatsache: wenn ich Sie nicht nach dem Namen des anderen frage, so ist das, weil ich den schon kenne. Sie sehen, Richard, Ihre Geschichte ist unter die Leute gekommen. Wenn Sie in irgendeinem Punkt ungenau gewesen sind, ist es gut, wenn Sie ihn richtigstellen.ÂŤ
ÂťIch meine, Sie hätten mich warnen sollen,ÂŤ versetzte der andere mit einem Anflug von VerdrieĂlichkeit. ÂťAber ich bin pedantisch genau gewesen, wie Sie das nennen. Der Kerl hatte einen SchlĂźssel; und noch mehr: er hat ihn noch jetzt. Ich sah ihn Gebrauch davon machen, es ist noch keine Woche her.ÂŤ
Utterson seufzte tief, sagte aber kein einziges Wort, und der junge Mann fuhr fort:
Da habe ich wieder einmal eine Lehre bekommen, nichts zu sagen! Ich schäme mich meiner langen Zunge. Wir wollen ein Abkommen treffen, daà wir niemals wieder ßber dieses Thema sprechen.
ÂťVon ganzem Herzen!ÂŤ rief der Anwalt. ÂťDarauf gebe ich Ihnen die Hand, Richard.ÂŤ
Kapitel 2: Nachforschung nach Hyde
An jenem Abend kam Utterson in dßsterer Stimmung in seine Junggesellenwohnung und setzte sich ohne Appetit zum Essen nieder. Es war seine Gewohnheit, Sonntags nach der Mahlzeit sich dicht an das Kaminfeuer zu setzen und irgendein langweilig frommes Buch auf seinem Lesepult liegen zu haben, bis es auf der nahen Kirche zwÜlf Uhr schlug, worauf er nßchtern und dankbar zu Bett ging. An diesem Abend aber nahm er, sobald das Tischtuch abgehoben war, eine Kerze und ging in sein Arbeitszimmer. Dort Üffnete er seinen Geldschrank, nahm aus dem Geheimfach desselben ein Dokument hervor, das auf dem Umschlag als Dr. Jekylls Testament bezeichnet war, und setzte sich mit gerunzelter Stirne nieder, um den Inhalt desselben zu studieren. Dieser letzte Wille war vom Doktor mit eigener Hand geschrieben; denn Utterson hatte ihn zwar in seinen Gewahrsam genommen, nachdem er einmal geschrieben war, hatte sich aber geweigert, bei der Abfassung auch nur die geringste Hilfe zu leisten. Das Testament bestimmte nicht nur, daà im Falle des Ablebens von Henry Jekyll, M. D., D. C. L., LL. D., F. R. S., etc. alle seine Besitztßmer in die Hände seines Freundes und Wohltäters Edward Hyde ßbergehen sollten, sondern auch, daà im Fall von Dr. Jekylls Verschwinden oder unerklärter Abwesenheit fßr einen Zeitraum, der drei Kalendermonate ßberschritte, besagter Edward Hyde sofort ohne jeden weiteren Aufschub in besagten Dr. Henry Jekylls Schuhe treten sollte, und zwar frei von jeder Last oder Verpflichtung, abgesehen von der Auszahlung einiger kleiner Beträge an die AngehÜrigen von des Doktors Haushalt.
Dieses Dokument war lange Zeit dem Rechtsanwalt ein Dorn im Auge gewesen. Es ärgerte ihn sowohl als Rechtskundigen wie als einen Freund vernßnftiger und herkÜmmlicher Lebensgewohnheiten, dem Phantastik gleichbedeutend war mit Unbescheidenheit. Und bis jetzt hatte der Umstand, daà dieser Hyde ihm unbekannt war, seinen Unwillen vermehrt; nun aber war es im Gegenteil gerade der Umstand, daà er ihn kannte. Es war bereits schlimm genug, als der Name nur ein Name war, der einem weiter nichts sagen konnte. Schlimmer aber wurde es, als dieser Name mit abscheulichen Attributen ausstaffiert zu werden begann, und als aus den wogenden, ungreifbaren Nebeln, die ihm solange das Auge getrßbt hatten, plÜtzlich das bestimmte Gefßhl heraussprang, es mit einem Teufel zu tun zu haben.
ÂťIch dachte, es sei Wahnsinn,ÂŤ sagte er, indem er das unangenehme Dokument in den Geldschrank zurĂźcklegte; Âťjetzt aber beginne ich zu fĂźrchten, es ist Schande.ÂŤ
Hierauf blies er seine Kerze aus, zog einen dicken Mantel an und machte sich auf nach Cavendish Square, der Hochburg der Arzneikunst, wo sein Freund, der groĂe Dr. Lanyon, sein Haus hatte und den Andrang seiner Patienten empfing.
Wenn irgendein Mensch was weiĂ, wird Lanyon es sein, hatte Utterson gedacht.
Der feierliche Kammerdiener kannte und begrĂźĂte ihn; er brauchte nicht einen Augenblick zu warten, sondern wurde gleich von der HaustĂźr in das EĂzimmer gefĂźhrt, wo Dr. Lanyon allein bei seinem Wein saĂ. Er war ein herzhafter, gesunder, munterer alter Herr mit rotem Gesicht, mit einem Schopf von Haaren, die vor der Zeit weiĂ geworden waren, und einem entschiedenen, etwas lauten Auftreten. Bei Uttersons Anblick sprang er von seinem Stuhl auf und begrĂźĂte ihn mit ausgestreckten Händen. Die Herzlichkeit war etwas theatralisch anzusehen, wie der Doktor sich benahm; aber sie entsprang aufrichtigem GefĂźhl. Denn die beiden waren alte Freunde, alte Schul- und Universitätskameraden; beide hatten Achtung vor sich selber und voreinander, und sie waren, was aus dem Vorherigen nicht ohne weiteres folgt, Männer, die an ihrer Gesellschaft gegenseitig eine wahre Freude hatten. Nach einem kurzen Geplauder Ăźber dies und das kam der Anwalt auf den Gegenstand, der ihn in so unangenehmer Weise beschäftigte.
Ich vermute, Lanyon, sagte er, du und ich mßssen wohl die beiden ältesten Freunde von Henry Jekyll sein?
Ich wollte, die Freunde wären jßnger, kicherte Dr. Lanyon. Aber ich glaube, wir sind es. Und wozu fragst du? Ich sehe ihn jetzt nur noch selten.
So? sagte Utterson, ich dachte, euch verbänden gemeinsame Interessen.
ÂťDas war einmal. Aber seit mehr als zehn Jahren ist Henry Jekyll fĂźr mich zu phantasievoll geworden. Er begann auf Abwege zu kommen, auf geistige Abwege, meine ich; und obgleich ich natĂźrlich immer noch an seinem Wirken Anteil nehme, um der alten Freundschaft willen, so sehe ich und sah ich schon seit langer Zeit hĂśllisch wenig von dem Mann. So ein unwissenschaftlicher QuatschÂŤ, rief der Doktor, indem er plĂśtzlich purpurrot wurde, ÂťwĂźrde Damon und Pythias auseinandergebracht haben.ÂŤ
Dieser kleine GefĂźhlsausbruch war fĂźr Utterson eine Art von Erleichterung.
Sie sind nur wegen irgendeiner wissenschaftlichen Frage in Streit geraten, dachte er bei sich selber; und da er ein Mann war, dem wissenschaftliche Leidenschaften ganz fremd waren â abgesehen in Fragen, die notarielle Dinge betrafen â so fĂźgte er sogar hinzu: Wenn es nichts Schlimmeres ist!
Er gĂśnnte seinem Freunde ein paar Sekunden, um sich wieder zu sammeln, und kam dann auf die Frage, die ihn eigentlich hergefĂźhrt hatte:
ÂťKamst du jemals mit einem SchĂźtzling von ihm zusammen â einem gewissen Hyde?ÂŤ
ÂťHyde?ÂŤ wiederholte Lanyon. ÂťNein. Nie von ihm gehĂśrt. MuĂ nach meiner Zeit gewesen sein.ÂŤ
Das war die ganze Auskunft, die der Anwalt mit sich nach Hause nahm und mit der er sich in das groĂe, dunkle Bett legte, in welchem er sich hin und her warf, bis die kleinen Morgenstunden groĂ zu werden begannen. Es war eine Nacht, die seinem geschäftigen Geist wenig Erquickung brachte, da er vĂśllig im Dunkeln arbeitete und sich von Fragen bestĂźrmt sah.
Sechs Uhr schlug es auf dem Kirchturm, der so angenehm nahe bei Uttersons Haus stand, und immer noch bohrte er an dem Problem herum. Bisher hatte es nur seinen Verstand beschäftigt; jetzt aber war auch seine Einbildungskraft in Anspruch genommen, oder besser gesagt: gefesselt; und wie er so lag und sich in der dichten schwarzen Finsternis der Nacht in seinem durch Vorhänge gegen jedes Licht geschĂźtzten Zimmer hin und her warf, zog Enfields Erzählung wie eine Rolle von hellerleuchteten Bildern an seinem Geist vorĂźber. Er sah vor sich die endlosen Laternenreihen einer nächtlichen Stadt; dann die Gestalt eines schnellgehenden Mannes; dann ein Kind, das vom Hause des Doktors nach der elterlichen Wohnung lief; dann stieĂen diese zusammen, und der menschliche Juggernaut trat das Kind zu Boden und ging weiter, ohne sich um das Geschrei zu bekĂźmmern. Dann wieder sah er ein Zimmer in einem reichen Hause, worin sein Freund schlafend lag und träumte und Ăźber seine Träume lächelte; und dann Ăśffnete sich die TĂźr dieses Zimmers, die Bettvorhänge wurden zur Seite gerissen, der Schläfer angerufen, und da, siehe! an seiner Seite stand eine Gestalt, der Macht Ăźber ihn gegeben war, und augenblicklich, in dieser Todesstunde, muĂte er aufstehen und sein GeheiĂ erfĂźllen. Die Gestalt in diesen beiden Erscheinungsformen verfolgte den Anwalt die ganze Nacht; und wenn er einmal einschlummerte, so geschah es nur, um sie noch verstohlener durch schlafende Häuser gleiten zu sehen oder sie schneller und immer noch schneller, bis zu schwindelerregender Schnelligkeit durch noch grĂśĂere Labyrinthe von Gaslaternen beleuchteter GroĂstadtstraĂen sich bewegen zu sehen: an jeder StraĂenecke ein Kind zu zertrampeln und es schreiend am Boden liegen zu lassen. Und doch hatte die Gestalt kein Gesicht, woran er sie hätte erkennen kĂśnnen; sogar in seinen Träumen hatte sie kein Gesicht, oder doch nur eins, das ihn verhĂśhnte und vor seinen Augen zerfloĂ. Und so geschah es, daĂ in des Anwalts Sinn eine eigentĂźmlich starke, beinahe zĂźgellose Neugier erwuchs, die GesichtszĂźge des wirklichen Hyde zu erblicken. Er dachte: wenn er nur ein einziges Mal ihn zu Gesicht bekommen kĂśnnte, dann wĂźrde das Geheimnis sich aufhellen und vielleicht Ăźberhaupt verschwinden, wie es mit geheimnisvollen Dingen zu geschehen pflegt, wenn sie sorgfältig geprĂźft werden. Vielleicht wĂźrde er einen Grund entdecken, weshalb sein Freund diese sonderbare Vorliebe fĂźr den Menschen hätte oder unter dessen Bann stände â was von beidem es denn eben sein mochte â und vielleicht entdeckte er sogar einen Grund fĂźr die Ăźberraschenden Bestimmungen des Letzten Willens. Zum mindesten wĂźrde es ein Gesicht sein, das zu sehen der MĂźhe wert wäre: das Gesicht eines Menschen, der keinen Funken von Barmherzigkeit in sich hatte; ein Gesicht, das sich nur zu zeigen brauchte, um in dem GemĂźt eines sonst keines Eindrucks fähigen Menschen wie Enfield ein GefĂźhl dauernden Hasses zu erregen.
Von dieser Zeit an begann Utterson die TĂźr in der NebenstraĂe zu beobachten. Morgens vor seinen Kanzleistunden â mittags, obgleich die Geschäfte drängten und die Zeit knapp war â nachts unter dem Antlitz des nebelumhĂźllten Londoner Mondes â bei allen Beleuchtungen und in allen Stunden von Einsamkeit oder Menschengedränge war der Anwalt auf dem von ihm erwählten Posten zu finden.
Wenn er Mister Hyde ist, hatte er gedacht, werde ich Mister Seek sein Hyde ( hide) bedeutet im Englischen: sich verstecken; seek: suchen..
Und schlieĂlich wurde seine Geduld belohnt. Es war eine schĂśne trockene Nacht; Frost in der Luft; die StraĂen so sauber wie eine Ballsaaldiele; die Laternen, die von keinem Wind bewegt wurden, woben auf der Erde ein regelmäĂiges Muster aus Licht und Schatten. Nach zehn Uhr, nach SchluĂ der Kaufläden, war die NebenstraĂe sehr einsam und sehr still, obgleich ringsherum der Londoner Lärm grollte. Leise TĂśne waren auf weite Entfernung zu hĂśren; Geräusche im Inneren der Häuser waren auf beiden Seiten der StraĂe deutlich vernehmbar; wenn ein FuĂgänger kam, hĂśrte man schon lange vorher seine Schritte. Utterson war einige Minuten auf seinem Posten, als er bemerkte, daĂ ein eigentĂźmlicher, leichter Schritt sich näherte. Im Laufe seiner nächtlichen Patrouillengänge hatte er sich längst an die eigentĂźmliche Wirkung gewĂśhnt, welche die Schritte eines einzelnen Menschen machen, die noch weit entfernt sind, aber plĂśtzlich ganz deutlich unterscheidbar aus dem ungeheuren Lärm und Tosen der Riesenstadt sich ablĂśsen. Aber nie zuvor war seine Aufmerksamkeit so scharf und entschieden gefesselt worden; und mit einer starken, abergläubischen Vorahnung von Erfolg zog er sich in die Nische der HoftĂźre zurĂźck.
Die Schritte kamen schnell näher und wurden plĂśtzlich lauter, als sie um die StraĂenecke bogen. Der Anwalt spähte aus seiner TĂźrnische heraus und konnte bald sehen, mit was fĂźr einer Art von Mann er zu tun hatte. Er war klein und sehr einfach angezogen; sein Anblick erregte selbst auf die weite Entfernung in dem Beobachtenden ein starkes Unbehagen.
Der Mann ging gerade auf die Tßr zu, quer ßber den Fahrdamm, um Zeit zu sparen; und während der letzten Schritte zog er einen Schlßssel aus der Tasche, wie es einer tut, der nach Hause kommt.
Utterson trat vor, klopfte ihm auf die Schulter, als er an ihm vorĂźberkam, und sagte:
ÂťHerr Hyde, denke ich!ÂŤ
Hyde fuhr zurĂźck, indem er mit einem zischenden Laut den Atem einzog. Aber seine Furcht war nur augenblicklich; obgleich er dem Anwalt nicht ins Gesicht sah, antwortete er kĂźhl genug:
ÂťDas ist mein Name â was wĂźnschen Sie?ÂŤ
ÂťIch sehe, Sie gehen hier hinein,ÂŤ erwiderte der Anwalt. ÂťIch bin ein alter Freund von Dr. Jekyll â Utterson in der Gaunt Street, Sie mĂźssen meinen Namen gehĂśrt haben â und da ich Sie so gelegen traf, so dachte ich, Sie kĂśnnten mich einlassen.ÂŤ
ÂťSie werden Dr. Jekyll nicht zu Hause finden; er ist ausgegangen,ÂŤ antwortete Hyde und blies in den SchlĂźssel hinein. Und dann fragte er plĂśtzlich, aber ohne dabei aufzublicken:
ÂťWoher kannten Sie mich?ÂŤ
ÂťWollen Sie IhrerseitsÂŤ, sagte Utterson, Âťmir einen Gefallen erweisen?ÂŤ
ÂťMit VergnĂźgen; was wĂźnschen Sie?ÂŤ
ÂťWollen Sie mich Ihr Gesicht sehen lassen?ÂŤ fragte der Anwalt.
Hyde schien zu zĂśgern; dann aber, wie wenn er sich’s plĂśtzlich Ăźberlegt hätte, drehte er mit einem trotzigen Ausdruck auf dem Gesicht sich um, und die beiden starrten einander ein paar Sekunden lang fest an.
ÂťJetzt werde ich Sie wiedererkennen,ÂŤ sagte Utterson. ÂťDas wird vielleicht von Nutzen sein.ÂŤ
ÂťJa,ÂŤ antwortete Hyde, Âťes ist ganz gut, daĂ wir uns getroffen haben; und apropos â Sie sollten meine Adresse haben.ÂŤ
Und er nannte eine Hausnummer in einer StraĂe in Soho.
Guter Gott! dachte Utterson; kann auch er an das Testament gedacht haben?
Aber er behielt seine GefĂźhle fĂźr sich und brummte nur etwas, als der andere die Adresse nannte.
ÂťUnd nun,ÂŤ sagte dieser, Âťwoher kannten Sie mich?ÂŤ
ÂťNach einer Beschreibung.ÂŤ
ÂťVon wem?ÂŤ
ÂťWir haben gemeinsame Freunde.ÂŤ
ÂťGemeinsame Freunde?ÂŤ echote Hyde etwas heiser. ÂťWer sind die?ÂŤ
ÂťJekyll zum Beispiel,ÂŤ sagte der Anwalt.
ÂťDer hat Ihnen niemals beschrieben, wie ich aussehe,ÂŤ rief Hyde und wurde vor Ărger rot. ÂťIch dachte nicht, daĂ Sie lĂźgen wĂźrden.ÂŤ
ÂťOho!ÂŤ rief Utterson; Âťdas sind unziemliche AusdrĂźcke.ÂŤ
Der Andere brach in ein lautes hĂśhnisches Lachen aus, hatte im nächsten Augenblick mit auĂerordentlicher Geschwindigkeit die TĂźr aufgeschlossen und war im Hause verschwunden.

Der Anwalt stand noch eine Weile, nachdem Hyde ihn verlassen hatte, auf derselben Stelle â ein Bild der Unruhe. Dann begann er langsam die StraĂe hinauf zu gehen, wobei er alle paar Schritte stehenblieb und sich an die Stirn griff, wie ein Mensch, der vollkommen ratlos ist. Das Problem, mit dem er sich im Gehen beschäftigte, gehĂśrte zu jenen, die selten gelĂśst werden: Hyde war blaĂ und wie ein Zwerg gewachsen; er machte den Eindruck eines KrĂźppels, obgleich man eine bestimmte MiĂbildung nicht hätte namhaft machen kĂśnnen; er hatte ein widerwärtiges Lächeln; er hatte sich dem Anwalt gegenĂźber mit einer Art mĂśrderischer Mischung von Zaghaftigkeit und Frechheit benommen, und er sprach mit heiserer, flĂźsternder, etwas gebrochener Stimme. Dies alles waren Eigenschaften, die gegen ihn sprachen; aber selbst alle diese Eigenschaften zusammen konnten das ihm bis dahin unbekannte GefĂźhl von Ekel, Abscheu und Furcht nicht erklären, womit Utterson ihn betrachtete.
ÂťEs muĂ noch etwas anderes da sein,ÂŤ sagte der alte Herr in seiner Ratlosigkeit. ÂťJa, es ist noch etwas anderes da â wenn ich nur einen Namen dafĂźr finden kĂśnnte! Gott behĂźte mich: der Mann sieht kaum wie ein Mensch aus. Er hat etwas, wie soll ich sagen, Troglodytisches â oder kann es die alte Geschichte von Dr. Fell sein? Oder ist es die bloĂe Ausstrahlung einer verfaulten Seele, die durch ihre irdische HĂźlle hindurchdringt und sie entstellt? Das letzte wird es wohl sein â denn ach, mein armer alter Herr Jekyll â wenn ich jemals des Satans Stempel auf einem Gesicht gesehen habe, so ist es auf dem deines neuen Freundes.ÂŤ
Gleich um die Ecke von der schmalen StraĂe aus lag ein Platz, der von alten hĂźbschen Häusern eingefaĂt war, die aber jetzt meistens von ihrer Vornehmheit herabgesunken waren und in einzelnen Stockwerken und Zimmern an Leute aller mĂśglichen Stände vermietet wurden: Landkartenstecher, Baumeister, zweifelhafte Rechtsanwälte und Agenten dunkler Unternehmungen. Eines von diesen Häusern indessen, und zwar das zweite von der Ecke, wurde immer noch nur vom Besitzer allein bewohnt; und vor der TĂźr dieses Hauses, das unverkennbar nach Reichtum und Behaglichkeit aussah, obgleich es jetzt, abgesehen von dem Halbbogenfenster Ăźber der HaustĂźr, in tiefem Dunkel lag â vor diesem Hause blieb Utterson stehen und klopfte. Ein gut gekleideter, älterer Diener Ăśffnete die TĂźr.
ÂťIst Dr. Jekyll zu Hause, Poole?ÂŤ fragte der Anwalt.
ÂťIch will nachsehen, Herr Utterson,ÂŤ sagte Poole, indem er während des Sprechens den Besucher in eine groĂe, behagliche Halle mit niedriger Decke und mit FliesenfuĂboden fĂźhrte, die (wie in einem Landhause) von einem hellen, offenen Kaminfeuer erwärmt und mit kostbaren Eichenschränken ausgestattet war.
ÂťWollen Sie hier am Feuer warten, Herr? Oder soll ich Ihnen im EĂzimmer Licht machen?ÂŤ
ÂťNein, hier, danke,ÂŤ sagte der Anwalt, und er trat näher an das Feuer und lehnte sich an das hohe Kamingitter. Diese Halle, in der er jetzt allein war, war der Lieblingsraum seines Freundes, des Doktors, und Utterson selbst pflegte ihn als das behaglichste Zimmer in ganz London zu preisen. Aber in dieser Nacht war ein Schauder in seinem Blut; Hydes Gesicht lastete schwer auf seinem Gedächtnis; er fĂźhlte â was ihm selten geschah â einen Ekel und Abscheu vor dem Leben; und in seiner trĂźben Stimmung war es ihm, wie wenn er in dem flackernden Feuerschein an den blanken Schränken und in dem unruhigen Spiel des Schattens auf der Zimmerdecke eine Drohung läse. Er schämte sich selbst darĂźber, daĂ er sich erleichtert fĂźhlte, als Poole bald zurĂźckkam und ihm meldete, Dr. Jekyll sei ausgegangen.
ÂťIch sah Herrn Hyde in die TĂźr zum alten Anatomiesaal hineingehen, Poole,ÂŤ sagte er. ÂťIst das in Ordnung, wenn Dr. Jekyll nicht zu Hause ist?ÂŤ
ÂťVollkommen in Ordnung, Herr Utterson,ÂŤ antwortete der Diener. ÂťHerr Hyde hat einen SchlĂźssel.ÂŤ
ÂťIhr Herr scheint ein recht groĂes Vertrauen in diesen jungen Mann zu setzen, Poole,ÂŤ sagte der Anwalt nachdenklich.
ÂťJawohl, Herr, das tut er auch; wir sind alle angewiesen, ihm zu gehorchen.ÂŤ
ÂťIch glaube nicht, daĂ ich Herrn Hyde jemals hier getroffen habe?ÂŤ fragte Utterson weiter.
Oh! Gewià nicht, Herr! Er speist niemals hier, antwortete der Bediente. Wir sehen tatsächlich sehr wenig von ihm auf dieser Seite des Hauses; meistens kommt und geht er durch das Laboratorium.
ÂťNa, gute Nacht, Poole.ÂŤ
ÂťGute Nacht, Herr Utterson.ÂŤ
Und der Anwalt ging heimwärts, mit einem sehr schweren Herzen.
Armer Henry Jekyll! dachte er; mich mĂźĂte alles täuschen, wenn er nicht in gefährlichem Fahrwasser wäre! In seiner Jugend war er wild; das ist freilich lange her; aber in Gottes Gesetz gibt es keine Vorschriften fĂźr zeitliche Beschränkungen. Ja, das muĂ es sein: das Gespenst irgendeiner alten SĂźnde, der fressende Krebs irgendeiner verheimlichten Schande â und jetzt kommt die Strafe, pede claudo, nach Jahren â nachdem das Gedächtnis den Fehltritt schon vergessen, die Eigenliebe ihn verziehen hatte.
Und der Anwalt, von diesen Gedanken erschreckt, brĂźtete eine Weile Ăźber seine eigene Vergangenheit, in allen Winkeln seines Gedächtnisses herumtastend, ob nicht durch Zufall irgendein Kastenmännchen von einer alten Verfehlung ans Licht springen wĂźrde. Seine Vergangenheit war ziemlich tadellos; wenig Menschen konnten furchtloser das Buch ihres Lebens lesen; und trotzdem fĂźhlte er sich als SĂźnder in den Staub gedrĂźckt von den vielen bĂśsen Dingen, die er getan hatte, und fĂźhlte sich dann wieder zu einer nĂźchternen und furchtsamen Dankbarkeit erhoben durch die Ăberlegung, wie viele Ăźble Dinge er beinahe getan, aber doch vermieden hätte. Und dann kam er wieder auf den frĂźheren Gegenstand seines Nachdenkens, und da bemerkte er einen Funken von Hoffnung.
Wenn man diesem Meister Hyde genau nachforschte! dachte er; er muĂ selber Geheimnisse haben; schwarze Geheimnisse, nach seinem Aussehen zu urteilen; Geheimnisse, im Vergleich mit denen die schlimmsten Geheimnisse des armen Jekyll wie Sonnenstrahlen leuchten wĂźrden. So, wie es ist, kann es nicht weitergehen; es Ăźberläuft mich kalt, wenn ich daran denke, daĂ dies GeschĂśpf sich wie ein Dieb an Henrys Bett schleicht; armer Henry, welch ein Erwachen! Und dann die Gefahr! Denn wenn dieser Hyde das Vorhandensein des Testamentes ahnt, wird er vielleicht ungeduldig, die Erbschaft anzutreten. Jawohl, ich muĂ meine Schulter an das Rad stemmen â wenn Jekyll es nur zuläĂt, daĂ ich es tue â wenn Jekyll es nur zuläĂt!ÂŤ
Wieder sah er vor seinem geistigen Auge, klar und deutlich wie ein Transparentbild, die seltsamen Bestimmungen in Jekylls letztem Willen.
Kapitel 3: Dr. Jekylls GemĂźtsruhe
Es traf sich ausgezeichnet, daĂ vierzehn Tage später der Doktor eine von seinen angenehmen kleinen Tischgesellschaften gab: fĂźnf oder sechs alte Kumpane waren eingeladen, lauter kluge, angesehene Männer, die einen guten Wein zu schätzen wuĂten. Utterson wuĂte es so einzurichten, daĂ er noch dablieb, als die anderen gingen. Dies war nichts besonders Neues, sondern war schon Dutzende von Malen vorgekommen. Wo Utterson gefiel, gefiel er wirklich. Gastgeber behielten gern den trockenen Rechtsgelehrten noch bei sich, wenn die Lustigen und Zungenfertigen schon ihre FĂźĂe Ăźber die Schwelle gesetzt hatten; sie saĂen gern eine Weile in seiner unaufdringlichen Gesellschaft â eine Art VorĂźbung zur Einsamkeit â und ernĂźchterten ihren Sinn durch dieses Mannes reiches Schweigen nach der Vergeudung und Anspannung von FrĂśhlichkeit. Von dieser Regel bildete Dr. Jekyll keine Ausnahme; und als er nun seinen Freund am Kamin gegenĂźber sah â ein groĂer, gut gewachsener FĂźnfziger mit einem glatten Gesicht, worin vielleicht ein Zug von Schlauheit lag, dem aber der Stempel der TĂźchtigkeit und Freundlichkeit deutlich aufgedrĂźckt war â, da konnte man wohl an seinen Blicken sehen, daĂ er fĂźr Utterson eine aufrichtige und warme Zuneigung empfand.
ÂťIch hatte den Wunsch, mit dir zu sprechen, Jekyll,ÂŤ begann der andere. ÂťWeiĂt du â Ăźber dein Testament.ÂŤ

Ein scharfer Beobachter hätte bemerken kĂśnnen, daĂ dieser Gesprächsgegenstand unerwĂźnscht war; aber der Doktor sagte mit anscheinender Leichtigkeit, äuĂerlich ganz heiter:
ÂťArmer Utterson, du hast UnglĂźck, daĂ du so einen Klienten hast! Ich sah niemals einen Menschen so verstĂśrt wie dich, als du meinen Letzten Willen beglaubigen muĂtest â es sei denn dieser in Pergament eingebundene Pedant Lanyon in seinem Entsetzen Ăźber meine wissenschaftlichen Hexereien, wie er es nannte. Oh! Ich weiĂ, er ist ein guter Kerl â du brauchst nicht die Stirn zu runzeln â, ein ausgezeichneter Bursch, und ich habe schon lange die Absicht, wieder Ăśfter mit ihm zu verkehren; aber ein in Eselshaut eingebundener Pedant ist er bei alledem â ein unwissender, lärmmachender Pedant! Ich bin niemals von einem Menschen so enttäuscht gewesen, wie von Lanyon.ÂŤ
ÂťDu weiĂt, ich habe es niemals gebilligt,ÂŤ fuhr Utterson unbarmherzig in seinem Gedankengang fort, ohne sich um das neue Thema zu bekĂźmmern.
ÂťMein Testament? Ja, gewiĂ, das weiĂ ich,ÂŤ sagte der Doktor, ein kleines biĂchen scharf. ÂťDas hast du mir ja gesagt.ÂŤ
ÂťNun, ich sage es dir heute noch einmal,ÂŤ sagte der Anwalt. ÂťIch habe etwas Ăźber den jungen Hyde erfahren.ÂŤ
Das breite, schĂśne Gesicht Dr. Jekylls wurde bleich bis in die Lippen, und in seine Augen kam etwas Finsteres.
Ich mÜchte hierßber nichts mehr hÜren, sagte er; ich dächte, wir hätten abgemacht, daà wir ßber diese Sache nicht mehr sprechen wollen.
ÂťWas ich hĂśrte, war scheuĂlich,ÂŤ sagte Utterson.
ÂťIch kann meinen Letzten Willen nicht ändern. Du verstehst meine Lage nicht,ÂŤ erwiderte der Doktor, offenbar etwas verlegen. ÂťIch bin in einer peinlichen Lage, Utterson; meine Stellung in dieser Sache ist seltsam â sehr seltsam. Es ist eine von jenen Geschichten, die sich durch Reden nicht besser machen lassen.ÂŤ
ÂťJekyll â du kennst mich: ich bin ein Mann, auf den man sich verlassen kann. Vertraue mir, schĂźtte mir dein Herz aus, und ich bezweifle nicht, daĂ ich dir aus dieser Lage heraushelfen kann.ÂŤ
Mein guter Utterson, sagte der Doktor, es ist sehr lieb von dir, es ist ungeheuer lieb von dir, und ich finde keine Worte, dir meinen Dank dafßr auszusprechen. Ich glaube dir vollkommen; ich wßrde dir mehr als irgendeinem anderen lebenden Menschen, ja sogar mehr als mir selber vertrauen, wenn ich die Wahl hätte. Aber es ist wirklich nicht das, was du dir in deiner Phantasie ausmalst; es ist nicht so schlimm, und nur um dein gutes Herz zu beruhigen, will ich dir eins sagen: ich kann mir Herrn Hyde in jedem Augenblick vom Halse schaffen, sobald ich will! Hierauf gebe ich dir meine Hand und danke dir nochmals dafßr, daà du so gut bist. Und nun noch ein WÜrtchen, Utterson, das du mir sicherlich nicht ßbelnehmen wirst: es ist meine private Angelegenheit, und ich bitte dich, sie ruhen zu lassen.
Utterson sah in das Kaminfeuer und dachte einen Augenblick nach. Dann sagte er:
ÂťIch bezweifle nicht, daĂ du vollkommen recht hast.ÂŤ Und er stand auf.
ÂťSchĂśn â aber da wir einmal auf diese Geschichte gekommen sind, und hoffentlich zum letzten Male,ÂŤ sagte der Doktor noch, Âťso wäre es mir lieb, wenn du folgendes begriffest: Ich interessiere mich wirklich sehr fĂźr den armen Hyde. Ich weiĂ, daĂ du ihn gesehen hast; er sagte mir das; und ich fĂźrchte, er war unhĂśflich gegen dich. Aber ich nehme aufrichtig groĂen, sehr groĂen Anteil an dem jungen Mann; und wenn ich aus dieser Welt hinweggenommen werde, Utterson, so bitte ich dich herzlich, dich seiner anzunehmen, damit er zu seinen Rechten kommt. Ich bin Ăźberzeugt, du wĂźrdest das tun, wenn du alles wĂźĂtest; und es wĂźrde mir eine Last von der Seele nehmen, wenn du mir dies versprechen wolltest.ÂŤ
ÂťIch kann nicht behaupten, daĂ er mir jemals gefallen wird,ÂŤ sagte der andere.
Das verlange ich auch nicht, sagte Jekyll in bittendem Ton und legte dabei seine Hand auf des anderen Arm; ich verlange nur Gerechtigkeit; ich bitte dich nur, ihm um meinetwillen zu helfen, wenn ich nicht länger hier bin.
Utterson stieĂ einen Seufzer aus, den er nicht unterdrĂźcken konnte, und sagte:
ÂťNun, ich verspreche es dir.ÂŤ
Kapitel 4: Der Mord
Fast ein Jahr später, im Oktober des Jahres 18.., wurde London durch ein Verbrechen von auĂergewĂśhnlicher Grausamkeit in Aufregung versetzt, die durch die hohe gesellschaftliche Stellung des Opfers noch vermehrt wurde. Die Einzelheiten waren fĂźrchterlich. Ein Dienstmädchen, das sich in einem Hause nicht weit von der Themse allein befand, war ungefähr um elf Uhr in ihr Schlafzimmer hinaufgegangen. Obwohl einige Stunden später die City in dichten Nebel gehĂźllt war, war der Himmel in dieser frĂźhen Nachtzeit wolkenlos, und die schmale Gasse, auf die das Fenster des Dienstmädchenzimmers hinausging, war vom Vollmond hell erleuchtet. Sie war, wie es schien, romantisch veranlagt, denn sie setzte sich auf ihren Koffer, der unmittelbar unter dem Fenster stand, und versank in eine Träumerei. Nie â so sagte sie jedesmal unter strĂśmenden Tränen, wenn sie ihre Erlebnisse erzählte â hatte sie sich so in Frieden mit allen Menschen gefĂźhlt und freundlicher von der Welt gedacht. Und wie sie so saĂ, bemerkte sie einen schĂśnen alten Herrn mit weiĂen Haaren, der sich in der Gasse näherte, und ihm entgegengehend einen anderen, sehr kleinen Herrn, auf den sie weniger achtete. Als die beiden Herren in Sprechnähe kamen â was gerade unmittelbar unter dem Fenster des Mädchens geschah â, machte der Ăltere eine Verbeugung und sprach den anderen auf sehr liebenswĂźrdige und hĂśfliche Weise an. Es schien sich dabei um nichts besonders Wichtiges zu handeln; aus seinen Handbewegungen ging anscheinend hervor, daĂ er sich nur nach dem Weg erkundigte; aber der Mond beschien sein Gesicht, als er sprach, und das Mädchen hatte ihre Freude daran, dieses Gesicht zu beobachten: es strahlte eine so unschuldige, etwas altfränkische HerzensgĂźte davon aus, zugleich aber auch lag etwas gewissermaĂen Erhabenes darauf, wie ein Ausdruck von wohlbegrĂźndeter Selbstzufriedenheit. PlĂśtzlich fiel ihr Blick auf den anderen, und sie erkannte in ihm zu ihrer Ăberraschung einen gewissen Herrn Hyde, der ihren Herrn einmal besucht und gegen den sie sofort eine Abneigung empfunden hatte. Er hielt in seiner Hand einen schweren Stock, mit welchem er Lufthiebe schlug; aber er antwortete kein einziges Wort und schien mit schlecht verhehlter Ungeduld den alten Herrn anzuhĂśren. Und dann bekam er ganz plĂśtzlich einen furchtbaren Wutanfall, stampfte mit dem FuĂ auf, schwang seinen Stock und stĂźrzte â so beschrieb das Mädchen es â wie ein Wahnsinniger vorwärts. Der alte Herr trat mit einem Ausdruck hĂśchster Ăberraschung, und gleichzeitig offenbar etwas beleidigt, einen Schritt zurĂźck; da verlor dieser Herr Hyde auf einmal alle Selbstbeherrschung und schlug ihn zu Boden. Und im nächsten Augenblick trat er mit einer affenähnlichen Wut sein Opfer unter die FĂźĂe und lieĂ einen Sturm von Hieben auf ihn herniederhageln, unter denen der Schädel hĂśrbar zerschmettert wurde und der KĂśrper auf dem StraĂenpflaster emporsprang. Bei diesem gräĂlichen Anblick und bei diesen furchtbaren TĂśnen fiel das Mädchen in Ohnmacht.

Es war zwei Uhr, als sie wieder zu sich kam und nach der Polizei lief. Der MĂśrder war längst verschwunden; aber sein Opfer lag mitten in der kleinen Gasse, auf eine unglaubliche Weise verstĂźmmelt. Der Stock, mit dem die Untat vollbracht war, war von der Gewalt der in sinnloser Wut gefĂźhrten Hiebe mitten entzweigebrochen, obgleich er von sehr zähem und schwerem Holz war; und die eine zersplitterte Hälfte war in den nahen Rinnstein gerollt â die andere hatte der MĂśrder ohne Zweifel mitgenommen. Eine GeldbĂśrse und eine goldene Uhr wurden in den Kleidern des Erschlagenen gefunden, aber keine Karten oder Papiere, auĂer einem versiegelten und mit der Marke beklebten Brief, den er wahrscheinlich nach der Post hatte bringen wollen, und der den Namen und die Wohnung des Herrn Utterson aufwies.
Dieser Brief wurde dem Anwalt am nächsten Morgen gebracht, bevor er aufgestanden war; und kaum hatte er ihn gesehen und die näheren Umstände vernommen, so schob er mit sehr ernster Miene die Oberlippe vor und sagte:
Ich will nichts sagen, bevor ich die Leiche gesehen habe; es ist vielleicht eine sehr ernste Sache. Haben Sie die Gßte zu warten, während ich mich anziehe.
Mit demselben ernsten Gesicht frĂźhstĂźckte er hastig und fuhr dann nach der Polizeiwache, wohin die Leiche gebracht worden war. Sobald er die Zelle betrat, nickte er und sagte:
ÂťJa, ich erkenne ihn. Ich muĂ mit groĂem Bedauern sagen, es ist Sir Danvers Carew.ÂŤ
Gßtiger Gott, Herr Utterson! rief der Beamte, ist es mÜglich? Und im nächsten Augenblick funkelte Berufseifer aus seinen Blicken, und er sagte:
ÂťDas wird einen groĂen Lärm machen! Und vielleicht kĂśnnen Sie uns helfen, den Mann zu fassen.ÂŤ
Dann erzählte er in aller Kßrze, was das Mädchen gesehen hatte, und zeigte den zerbrochenen Stock.
Utterson hatte bereits einen Seufzer ausgestoĂen, als er den Namen Hyde hĂśrte; als ihm aber der Stock vorgelegt wurde, konnte er nicht länger zweifeln: obwohl er zerbrochen und zersplittert war, erkannte er in ihm sofort einen Stock, den er selber vor vielen Jahren seinem Freunde Henry Jekyll geschenkt hatte.
ÂťIst dieser Herr Hyde ein Mann von kleinem Wuchs?ÂŤ fragte er.
Auffallend klein und mit einem auffallend gemeinen Gesichtsausdruck; so beschreibt ihn das Mädchen, sagte der Beamte.
Utterson dachte einen Augenblick nach; dann hob er den Kopf und sagte:
ÂťWenn Sie mich in meinem Wagen begleiten wollen, so kann ich Sie, glaube ich, nach seiner Wohnung bringen.ÂŤ
Es war inzwischen ungefähr neun Uhr morgens geworden, und auf den StraĂen lag der erste Londoner Herbstnebel. Eine dichte schokoladenbraune Dunstmasse hing vom Himmel herab, aber der Wind machte fortwährend Angriffe auf die wogenden Massen, so daĂ Utterson, während der Wagen langsam von StraĂe zu StraĂe fuhr, eine wunderbare Menge aller mĂśglichen Abstufungen von Zwielicht beobachten konnte: an der einen Stelle war es dunkel wie am späten Abend; dann wieder leuchtete ein feuriges Braun, wie wenn eine seltsame Feuersbrunst loderte; dann wieder war fĂźr einen kurzen Augenblick der Nebel ganz verjagt, und ein blasses Tageslicht brach durch die wirbelnden Dunstmassen hindurch. Die elenden, schmutzigen StraĂen von Soho mit ihren kotigen Fahrdämmen, ihren schlumpigen Passanten, ihren Laternen, die gar nicht ausgelĂśscht oder am Morgen wieder angezĂźndet worden waren, um diesen plĂśtzlichen Ăberfall trauriger Finsternis zu bekämpfen, erschienen in dieser wechselnden Beleuchtung den Augen des Anwalts wie ein Stadtviertel, wie man es wohl in einem schweren Traum sieht, wenn einen der Alp drĂźckt. Auch seine Gedanken waren von dĂźsterster Farbe; und wenn er einen Blick auf seinen Fahrtgenossen warf, empfand er etwas von jenem Grausen vor dem Gesetz und vor den Vollziehern des Gesetzes, das zuweilen auch wohl den ehrenwertesten Menschen Ăźberkommen mag.
Als der Wagen vor dem dem Kutscher bezeichneten Hause anhielt, verzog der Nebel sich ein biĂchen und zeigte ihm eine schmutzige StraĂe, einen Schnapspalast, eine billige franzĂśsische Speisewirtschaft, einen Laden, worin Penny-Zeitschriften und Zwei-Penny-Salate verkauft wurden, viele zerlumpte Kinder, die sich in den Torwegen balgten, und viele Weiber von allen mĂśglichen Nationalitäten, die mit dem SchlĂźssel in der Hand ausgingen, um einen Morgenschnaps zu trinken; und im nächsten Augenblick senkte der Nebel sich wieder bernsteinbraun auf diese Gegend herab und verhĂźllte ihm die gemeine Umgebung. Hier war das Heim von Henry Jekylls Liebling â einem Mann, der eine viertel Million Pfund Sterling erben sollte!
Eine alte Frau mit elfenbeingelbem Gesicht und silberweiĂem Haar Ăśffnete die TĂźr. Ihr Antlitz trug einen Ausdruck von Verworfenheit, der durch Heuchelei gemildert war; aber ihre Manieren waren ausgezeichnet.
Ja, sagte sie, Herr Hyde wohne hier, sei aber nicht zu Hause; er sei diese Nacht sehr spät nach Hause gekommen, aber schon nach einer knappen Stunde wieder fortgegangen; dies sei indessen durchaus nicht auffallend, denn er habe sehr unregelmäĂige Gewohnheiten und komme oft gar nicht nach Hause; so sei es zum Beispiel gestern fast zwei Monate her gewesen, seitdem sie ihn zum letztenmal gesehen habe.
ÂťNun schĂśn â wir wĂźnschen seine Wohnung zu sehen!ÂŤ sagte der Anwalt; und als die Frau zu erklären begann, dies sei unmĂśglich, fuhr er fort:
ÂťIch sage Ihnen am besten gleich, wer der Herr hier ist: es ist Inspektor Newcomen von Scotland Yard.ÂŤ
Ein widerlicher Freudenstrahl erschien auf dem Gesicht der Frau.
ÂťAh!ÂŤ rief sie; Âťer ist im Druck! Was hat er getan?ÂŤ
Utterson und der Inspektor tauschten einen Blick aus.
ÂťDer Herr scheint nicht sehr beliebt zu sein,ÂŤ bemerkte der letztere. ÂťUnd nun, meine gute Frau, lassen Sie mal mich und diesen Herrn uns die Wohnung hier ansehen.ÂŤ
Von den sämtlichen Zimmern des Hauses, das, abgesehen von der alten Frau, vÜllig unbewohnt war, hatte Hyde nur zwei benutzt; aber diese beiden Zimmer waren mit Luxus und gutem Geschmack eingerichtet.
Ein Wandschrank war mit Weinen gefĂźllt; das EĂgeschirr war von Silber, die Tischwäsche elegant. An der einen Wand hing ein gutes Gemälde, ein Geschenk â wie Utterson vermutete â von Henry Jekyll, der ein ausgezeichneter Kunstkenner war. Die Teppiche waren dick und gefielen durch angenehme Farbenzusammenstellungen.
In diesem Augenblick boten allerdings die beiden Zimmer alle Anzeichen, daĂ sie kurz vorher in groĂer Hast durchstĂśbert worden waren; auf dem Boden lagen Kleider herum, deren Taschen herausgezogen waren; verschlieĂbare Schubfächer standen offen; und im Kamin lag ein Haufen grauer Asche, wie wenn viele Papiere verbrannt worden wären.
Aus dieser Asche zog der Inspektor, nachdem er drin herumgestochert hatte, die RĂźckenseite eines grĂźnen Scheckbuchs hervor, die der Einwirkung des Feuers widerstanden hatte.
Hinter der Tßr wurde die andere Hälfte des Spazierstocks gefunden; und da dieser Fund seinen Verdacht bestätigte, war der Beamte ganz entzßckt und sprach das mit vielen Worten aus.
Ein Besuch auf der Bank, wo mehrere tausend Pfund als Guthaben des MÜrders festgestellt wurden, vervollständigte die Untersuchung und die Befriedigung des Kriminalinspektors.
ÂťSie kĂśnnen sich drauf verlassen, Herr Utterson,ÂŤ sagte er zum Anwalt, Âťich habe ihn in meiner Hand! Er muĂ den Kopf verloren haben â sonst wĂźrde er niemals den Stock hiergelassen haben; vor allem hätte er nicht das Scheckbuch verbrannt. Herrgottnochmal, Geld bedeutet fĂźr den Mann einfach das Leben! Wir brauchen weiter nichts zu tun, als im Bankgebäude auf ihn zu warten und ihm die Handschellen anzulegen.ÂŤ
Dies letztere war jedoch nicht so leicht ausgefĂźhrt; denn Herr Hyde hatte wenig Bekannte gehabt â auch der Herr des Dienstmädchens hatte ihn Ăźberhaupt nur zweimal gesehen. Von AngehĂśrigen des MĂśrders konnte nirgends auch nur eine Spur aufgefunden werden. Photographieren hatte er sich niemals lassen. Und die wenigen, die ihn beschreiben konnten, wichen in ihren Beschreibungen weit voneinander ab, wie es bei den Aussagen von Durchschnittsbeobachtern der Fall zu sein pflegt.
Nur in einem einzigen Punkt stimmten alle Ăźberein: daĂ der FlĂźchtling auf jeden, der ihn gesehen, einen gespenstigen Eindruck einer unerklärlichen MiĂgestaltung gemacht hatte.
Kapitel 5: Der Brief
Es war spät am Nachmittag, als Utterson vor Dr. Jekylls Haus eintraf. Er wurde von Poole sofort eingelassen und durch die Kßchenräume und quer ßber einen Hof, der frßher einmal ein Garten gewesen war, nach dem Gebäude gefßhrt, das gemeiniglich als das Laboratorium oder der Seziersaal bezeichnet wurde. Der Doktor hatte das Haus von den Erben eines berßhmten Chirurgen gekauft, und da seine eigenen Neigungen sich mehr der Chemie als der Anatomie zuwandten, so hatte er dem am Ende des Gartens stehenden Gebäude eine andere Bestimmung gegeben.
Es war das erstemal, daĂ der Anwalt in diesem Teil der Wohnung seines Freundes ZulaĂ fand; er betrachtete voll Neugier das verwahrlost aussehende fensterlose Gebäude und sah mit einem eigentĂźmlich unbehaglichen GefĂźhl um sich, als er durch das Amphitheater schritt, das frĂźher von fleiĂigen Studenten gewimmelt hatte, während es jetzt trĂźbe und stumm dalag, die Tische mit chemischen Apparaten beladen, der FuĂboden mit Kisten, KĂśrben und Packstroh bedeckt, wie der Anwalt in dem Dämmerlicht bemerkte, das an diesem Nebeltage durch die Glaskuppel hereinfiel.
Am jenseitigen Ende des Raumes fĂźhrte eine Treppe zu einer mit rotem Fries bezogenen TĂźr hinauf, und durch diese gelangte Utterson endlich in des Doktors Studierzimmer. Es war ein groĂer Raum, an dessen Wänden ringsherum Glasschränke standen; ausgestattet war er unter anderem mit einem Drehspiegel und einem groĂen Schreibtisch; drei verstaubte Fenster mit eisernen Gittern sahen auf den Hof hinaus. Im Kamin brannte das Feuer; eine angezĂźndete Lampe war auf den Kaminsims gestellt, denn selbst in den Häusern begann der hereindringende Nebel sich bemerkbar zu machen; und dort am Kamin, dicht am wärmenden Feuer, saĂ Dr. Jekyll und sah todkrank aus. Er stand nicht auf, um seinem Besucher entgegenzugehen, sondern streckte nur eine kalte Hand ihm entgegen und begrĂźĂte ihn mit seltsam veränderter Stimme.
ÂťNun?ÂŤ sagte Utterson, sobald Poole sie allein gelassen hatte, Âťhast du die Neuigkeit gehĂśrt?ÂŤ
Der Doktor schauderte zusammen und sagte:
ÂťSie schrien sie auf dem Platz aus. Ich hĂśrte sie in meinem EĂzimmer.ÂŤ
ÂťEin Wort!ÂŤ sagte der Anwalt. ÂťCarew war mein Klient, aber das bist du auch, und ich wĂźnsche zu wissen, was ich tue. Du bist doch nicht so wahnsinnig gewesen, um den Kerl bei dir zu verstecken?ÂŤ
Utterson, ich schwÜre bei Gott, rief der Doktor, ich schwÜre bei Gott, er wird mir niemals wieder vor die Augen kommen. Ich sage dir bei meiner Ehre: in dieser Welt bin ich mit ihm fertig! Es ist alles aus. Und er braucht auch wirklich meine Hilfe nicht; du kennst ihn nicht so wie ich; er ist in Sicherheit, vollständig in Sicherheit. Merke dir meine Worte: man wird niemals wieder etwas von ihm hÜren.
Der Anwalt hĂśrte ihm verdrieĂlich zu; das fieberhafte Wesen seines Freundes gefiel ihm nicht.
Du scheinst seiner ziemlich sicher zu sein, sagte er endlich; und um deinetwillen hoffe ich, daà du recht haben mÜgest. Wenn es zu einer Gerichtsverhandlung käme, wßrde wohl dein Name genannt werden.
ÂťIch bin in bezug auf ihn vollkommen sicher; ich habe bestimmte GrĂźnde dafĂźr, die ich aber keinem Menschen mitteilen kann. Indessen, da ist eins, worĂźber du mir vielleicht einen Rat geben kannst. Ich habe â einen Brief erhalten, und ich weiĂ nicht, ob ich diesen der Polizei zeigen sollte. Ich mĂśchte ihn gerne dir Ăźbergeben, Utterson; ich bin sicher, daĂ du das Rechte triffst; ich habe so groĂes Vertrauen zu dir.ÂŤ
ÂťIch vermute, du befĂźrchtest, daĂ dieser Brief zu seiner Entdeckung fĂźhren kĂśnnte?ÂŤ fragte der Anwalt.
ÂťNein. Ich kann nicht sagen, daĂ ich mir Ăźberhaupt etwas daraus mache, was aus Hyde wird; ich bin vollständig fertig mit ihm. Ich dachte an meinen eigenen guten Ruf, der durch diese gräĂliche Geschichte ziemlich bloĂgestellt worden ist.ÂŤ
Utterson dachte eine Weile nach; er war Ăźberrascht von dieser selbstsĂźchtigen Denkweise seines Freundes und fĂźhlte sich sogleich durch sie erleichtert. Endlich sagte er:
ÂťGut. LaĂ mich den Brief sehen.ÂŤ
Der Brief war in eigentßmlichen, steilen Zßgen geschrieben und mit dem Namen Edward Hyde unterzeichnet. Er besagte, kurz genug, daà des Schreibers Wohltäter, Dr. Jekyll, den er seit langer Zeit fßr tausend edelmßtige Handlungen in so unwßrdiger Weise belohnt habe, sich um seine Sicherheit nicht beunruhigen mÜge, da er ßber Mittel zur Flucht verfßge, auf die er sich ganz bestimmt verlassen kÜnne.
Dem Anwalt gefiel dieser Brief recht gut; er lieĂ die Freundschaft dieser beiden Menschen in einem besseren Licht erscheinen, als er angenommen hatte; und er schalt sich selber wegen seines frĂźheren Verdachtes.
ÂťHast du den Umschlag?ÂŤ fragte er.
ÂťIch verbrannte ihn, bevor ich daran dachte, was ich tat. Aber es war kein Poststempel darauf. Der Brief war durch einen Boten an der TĂźr abgegeben worden.ÂŤ
ÂťSoll ich den Brief behalten und mir das Weitere einmal beschlafen?ÂŤ fragte Utterson.
ÂťIch wĂźnsche, daĂ du ganz allein statt meiner entscheidest,ÂŤ war die Antwort; Âťich habe das Vertrauen zu mir selber verloren.ÂŤ
ÂťNa, ich werd es mir Ăźberlegen. Und jetzt noch ein Wort: es war Hyde, der die Bestimmungen in deinem Testamente diktierte, die wegen jenem Verschwinden getroffen waren?ÂŤ
Der Doktor schien von einer Schwäche befallen zu werden; er preĂte seine Lippen fest zusammen und bebte.
ÂťIch wuĂte es,ÂŤ rief Utterson. ÂťEr beabsichtigte, dich zu ermorden. Du bist noch gerade eben gut davongekommen.ÂŤ
ÂťDieser Ausdruck paĂt nicht gut!ÂŤ antwortete der Doktor feierlich; Âťes ist etwas anderes: ich habe eine Lehre erhalten! O Gott, Utterson, welch eine Lehre habe ich erhalten!ÂŤ
Und er bedeckte fßr einen Augenblick sein Antlitz mit beiden Händen.
Als der Anwalt das Haus verlieĂ, verweilte er noch einen Augenblick, um ein Wort mit Poole zu sprechen:
ÂťHĂśren Sie mal: es wurde heute ein Brief abgegeben â wie sah denn der Bote aus?ÂŤ
Aber Poole behauptete steif und fest, es sei ganz sicher, daĂ Briefe nur mit der Post gekommen seien. ÂťUnd das waren auĂerdem nur Drucksachen,ÂŤ setzte er hinzu.
Diese Auskunft belebte die BefĂźrchtungen des Anwalts aufs neue. Offenbar war der Brief an der LaboratoriumstĂźr abgegeben worden; mĂśglicherweise war er sogar in des Doktors Studierzimmer geschrieben worden. Und wenn dies der Fall war, dann muĂte er ganz anders beurteilt werden und man muĂte um so vorsichtiger vorgehen.
Als er auf den Platz trat, rannten Zeitungsjungen auf den BĂźrgersteigen entlang und brĂźllten sich heiser: ÂťExtrablatt! GräĂliche Ermordung eines Parlamentsmitglieds!ÂŤ
Das war die Leichenrede fĂźr einen solchen Klienten; und er konnte sich einer gewissen BefĂźrchtung nicht erwehren, daĂ der gute Name eines anderen in den Wirbel dieses Skandals hineingezogen wĂźrde. Jedenfalls hatte er eine heikle Entscheidung zu treffen; und so sehr er sich sonst seiner Gewohnheit nach auf sich selber verlieĂ, begann er sich doch nach Rat zu sehnen. Unmittelbar war dieser nicht zu haben; aber vielleicht, dachte er, kĂśnnte er bei Gelegenheit einen erhaschen.
Gleich darauf saĂ er an der einen Seite seines eigenen Kaminfeuers; an der anderen saĂ sein Kanzleivorsteher Guest, und zwischen ihnen, in einer wohlberechneten Entfernung vom Feuer, stand auf einem Tischchen eine Flasche eines ganz besonderen alten Weines, der lange in der Dämmerung seines Kellers gelegen war. Der Nebel lag noch auf den StraĂen der in ihm ertrunkenen Stadt; die Laternen glĂźhten rot wie Karfunkel aus ihm hervor; und durch die Wolken, die den Schall dämpften, rollte das Getriebe der Weltstadt in den groĂen Hauptadern mit einem Ton wie mächtiges Sturmesbrausen. Aber das Zimmer war heiter im Schein das Kaminfeuers. In der Flasche hatte alle Säure sich längst gelĂśst; die Purpurfarbe des Weins war mit der Zeit sanft geworden, wie die Farben gemalter Glasfenster; und die Sonnenglut heiĂer Tage, die auf RebenhĂźgel geschienen hatte, war bereit, freigelassen zu werden und alle Nebel Londons zu zerstreuen.
Ganz allmählich taute der Anwalt auf. Es gab keinen Menschen, vor dem er weniger Geheimnisse bewahrte als vor Herrn Guest; er war nicht immer sicher, daĂ dieser so viele bewahrte, wie er wĂźnschte. Guest war oft in Geschäften beim Doktor gewesen; er kannte Poole; es war kaum anzunehmen, daĂ er nicht von Hydes vertraulichem Verkehr in dem Hause gehĂśrt hätte. Er zog vielleicht seine SchlĂźsse â wäre es also nicht ebensogut, wenn er einen Brief sähe, der dieses Geheimnis im richtigen Licht erscheinen lieĂ? AuĂerdem war Guest ein groĂer Sachverständiger in Handschriftendeutung, womit er sich eifrig beschäftigte; wĂźrde er es also nicht fĂźr ganz natĂźrlich und fĂźr eine Freundlichkeit halten, wenn er ihm den Brief zeigte? AuĂerdem war sein Kanzleivorsteher ein Mann, der gern einen Rat gab; er wĂźrde ein so merkwĂźrdiges SchriftstĂźck wohl kaum lesen, ohne eine Bemerkung fallen zu lassen; und je nach dieser Bemerkung, konnte Utterson vielleicht sein kĂźnftiges Verhalten einrichten.

ÂťDas ist ein trauriger Vorfall, dies mit Sir Danvers,ÂŤ sagte der Anwalt.
ÂťJawohl, Herr, allerdings. Es hat im Publikum groĂe Teilnahme hervorgerufen,ÂŤ antwortete Guest. ÂťDer Mann war natĂźrlich wahnsinnig.ÂŤ
ÂťIch mĂśchte gerne mal Ihre Ansichten darĂźber hĂśren,ÂŤ erwiderte Utterson; Âťich habe hier ein Dokument seiner Handschrift; es bleibt natĂźrlich unter uns beiden, denn ich weiĂ kaum, was ich in der Sache tun soll; auf alle Fälle ist es eine eklige Geschichte. Na, hier ist es â so etwas fĂźr Sie: das Autograph eines MĂśrders.ÂŤ
Guests Augen funkelten; er setzte sich sofort hin und studierte den Brief mit Leidenschaft. Dann sagte er:
ÂťNein, Herr Utterson â kein Wahnsinniger; aber eine sonderbare Handschrift ist dies.ÂŤ
ÂťUnd nach allem, was mir berichtet wurde, ein sehr sonderbarer Schreiber,ÂŤ setzte der Anwalt hinzu.
Gerade in diesem Augenblick trat der Diener mit einem Brief ein.
ÂťIst das von Dr. Jekyll, Herr?ÂŤ fragte der Kanzleivorsteher. ÂťIch dachte, ich kennte die Handschrift. Irgend etwas Privates, Herr Utterson?ÂŤ
ÂťNur eine Einladung zum Essen. Was? MĂśchten Sie sie gerne sehen?ÂŤ
ÂťNur einen Augenblick. Danke Ihnen, Herr Utterson!ÂŤ
Und der Schreiber legte die beiden Blätter nebeneinander und verglich eifrig ihren Inhalt. Endlich sagte er, indem er beide Briefe zurßckgab:
ÂťVielen Dank, Herr Utterson; es ist ein sehr interessantes Autograph.ÂŤ
Es entstand eine Pause, während welcher Herr Utterson mit sich selber kämpfte. PlÜtzlich fragte er:
ÂťWarum verglichen Sie sie, Guest?ÂŤ
ÂťHm, Herr Utterson; da ist eine recht merkwĂźrdige Ăhnlichkeit vorhanden; die beiden Handschriften sind in vielen Punkten identisch; nur die Richtung der Buchstaben ist verschieden.ÂŤ
ÂťRecht sonderbar,ÂŤ sagte Utterson.
ÂťWie Sie sagen â recht sonderbar,ÂŤ antwortete Guest.
ÂťIch wĂźrde von diesem Brief nichts verlauten lassen, wissen Sie,ÂŤ sagte der Anwalt.
ÂťNein, Herr Utterson. Ich verstehe.ÂŤ
Kaum war Utterson allein, so schloĂ er den Brief in seinen Geldschrank ein, wo er seit jener Stunde liegenblieb.
Was! dachte er bei sich, Henry Jekyll fälscht Briefe zugunsten eines MÜrders!
Und das Blut rann ihm kalt durch die Adern.
Kapitel 6: Eine merkwĂźrdige Mitteilung von Dr. Lanyon
Die Zeit verging. Tausende von Pfund Sterling wurden als Belohnung ausgeschrieben, denn der Mord an Sir Danvers wurde als eine Ăśffentliche Unbill empfunden; aber Hyde war aus dem Bereich der Polizei verschwunden, wie wenn er niemals vorhanden gewesen wäre. Indessen wurde vieles von seiner Vergangenheit entdeckt â lauter unrĂźhmliche Dinge. Es kamen Geschichten zum Vorschein von des Mannes Grausamkeit, einer herausfordernden, kalten und gleichzeitig heftigen Grausamkeit; von seinem schmutzigen Lebenswandel; von seinen merkwĂźrdigen Kumpanen; von dem HaĂ, den er anscheinend Ăźberall erweckt hatte â aber von seinem augenblicklichen Aufenthalt verlautete kein Ton. Von der Zeit an, da er am Morgen des Mordes das Haus in Soho verlassen hatte, war er ganz einfach von der Bildfläche verschwunden; und allmählich, je mehr Zeit verstrich, begann Utterson sich von seiner heiĂen Angst zu erholen und sich innerlich zu beruhigen. Der Tod des Sir Danvers war nach seiner Denkweise mehr als ausgeglichen durch das Verschwinden dieses Herrn Hyde.
Jetzt, da der bĂśse EinfluĂ entfernt worden war, begann fĂźr Dr. Jekyll ein neues Leben. Er kam aus seiner Abgeschiedenheit hervor, knĂźpfte die Verbindungen mit seinen Freunden von neuem an, wurde wieder im vertraulichen Verkehr ihr Gast und Wirt; und während er längst schon fĂźr seine Mildtätigkeit bekannt gewesen war, zeichnete er sich nicht weniger durch seinen kirchlichen Eifer aus. Er arbeitete fleiĂig, er war viel in der frischen Luft, er tat Gutes; sein Antlitz schien offener und heller zu werden, wie wenn er inwendig das BewuĂtsein hätte, daĂ er auf der Welt zu etwas nĂźtze wäre. Und länger als zwei Monate hindurch lebte der Doktor in Frieden.
Am 8. Januar hatte Utterson mit einer kleinen Gesellschaft beim Doktor gespeist; Lanyon war auch dabei gewesen; und die Augen des Gastgebers waren von einem zum andern gewandert wie in den alten Tagen, als die drei unzertrennliche Freunde gewesen waren. Am 12. Januar, und auch wieder am 14., war des Doktors TĂźr dem Anwalt verschlossen geblieben. Der Doktor hĂźte das Zimmer und empfange keinen Menschen, hatte Poole gesagt.
Am 15. Januar hatte Utterson es wieder versucht und war wieder nicht angenommen worden; und da er in den letzten beiden Monaten gewÜhnt gewesen war, seinen Freund fast täglich zu sehen, empfand er dessen Rßckkehr zur Einsamkeit als eine schwere Sorge auf seiner Seele. Am fßnften Abend hatte er Guest bei sich zum Essen; und am sechsten begab er sich zu Dr. Lanyon.

Hier wurde ihm wenigstens nicht der Zutritt verwehrt; aber sowie er eintrat, erschrak er Ăźber die Veränderung, die sich in des Doktors Aussehen vollzogen hatte. Ihm stand das Todesurteil sichtbar auf dem Gesicht geschrieben. Der sonst so frischrote Mann war bleich geworden; er war abgemagert; er war sichtbar kahler und älter; und trotz alledem waren es nicht so sehr diese Anzeichen eines schnellen kĂśrperlichen Verfalles, die dem Anwalt auffielen, wie ein Blick in seinen Augen und ein Gehaben, das auf einen tiefinneren, seelischen Schrecken schlieĂen zu lassen schien. Es war nicht anzunehmen, daĂ ein alter Arzt sich vor dem Tode fĂźrchtete; und doch war Utterson versucht, dies zu argwĂśhnen.
Ja, dachte er, er ist Arzt: er muĂ seinen eigenen Zustand kennen und muĂ wissen, daĂ seine Tage gezählt sind; und daĂ er dies weiĂ, ist mehr als er tragen kann.
Als aber Utterson eine Bemerkung ßber seines Freundes krankes Aussehen machte, erklärte Lanyon mit vollkommener Ruhe und Festigkeit, er sei ein verlorener Mann.
ÂťIch habe einen StoĂ bekommen,ÂŤ sagte er, Âťund werde mich niemals davon erholen. Es ist eine Frage von Wochen. Na, mein Leben ist angenehm gewesen; ich liebte es; jawohl, Utterson, ich lebte gern. Jetzt denke ich manchmal: wenn wir alles wĂźĂten, wären wir nur um so froher, uns davonzumachen.ÂŤ
ÂťJekyll ist ebenfalls krank,ÂŤ bemerkte Utterson. ÂťHast du ihn gesehen?ÂŤ
Lanyons Gesicht verzerrte sich und er hielt eine zitternde Hand empor.
ÂťIch wĂźnsche von Dr. Jekyll nichts mehr zu sehen noch zu hĂśren,ÂŤ sagte er mit lauter, zitternder Stimme. ÂťMit dem Menschen bin ich vollkommen fertig, und ich bitte dich, mir jede Anspielung auf einen Mann zu ersparen, den ich als tot betrachte.ÂŤ
ÂťNa, na!ÂŤ sagte Utterson; und nach einer ziemlich langen Pause fragte er:
ÂťKann ich nicht irgendwas tun? Wir sind drei sehr alte Freunde, Lanyon; wir werden in unserem Leben keine neuen mehr bekommen.ÂŤ
ÂťEs ist nichts zu machen,ÂŤ erwiderte Lanyon; Âťfrag ihn selber!ÂŤ
ÂťEr will mich nicht sehen.ÂŤ
ÂťDarĂźber wundere ich mich nicht. Eines Tages, Utterson, wenn ich tot bin, wirst du vielleicht erfahren, ob ich recht oder unrecht habe. Ich kann es dir nicht sagen. Und bis dahin â wenn du bei mir sitzen und mit mir von anderen Dingen plaudern kannst, so bitte ich dich um Gottes willen, bleib und tu es! Aber wenn du dich nicht von diesem verfluchten Thema fernhalten kannst â dann, in Gottes Namen, geh! Denn ich kann es nicht vertragen!ÂŤ
Sobald er nach Hause kam, setzte Utterson sich hin und schrieb an Jekyll, beschwerte sich Ăźber die AusschlieĂung aus seinem Hause und fragte nach der Ursache des unglĂźckseligen Bruches mit Lanyon. Schon der nächste Tag brachte ihm eine lange Antwort, die stellenweise in sehr pathetischen Worten gehalten war und stellenweise sehr dunkel und geheimnisvoll klang. Der Bruch mit Lanyon sei unheilbar.
ÂťIch tadle unsern alten Freund nicht,ÂŤ schrieb Jekyll, Âťaber ich teile seine Meinung, daĂ wir uns einander niemals wieder begegnen dĂźrfen. Ich gedenke von jetzt an äuĂerst eingezogen zu leben; du muĂt nicht Ăźberrascht sein, darfst auch nicht an meiner Freundschaft zweifeln, wenn meine TĂźr sogar oft verschlossen sein wird. Du muĂt mich meinen eigenen dunklen Weg gehen lassen; ich habe selber eine Strafe und eine Gefahr Ăźber mich gebracht, die ich nicht nennen kann. Wenn ich der ärgste aller SĂźnder bin, so leide ich auch am ärgsten. Ich konnte nicht glauben, daĂ unsere Erde Leiden und Schrecken enthielte, die einen Menschen so entmutigten; und du kannst nur eins tun, Utterson, um mir dieses Geschick zu erleichtern: mein Schweigen achten.ÂŤ
Utterson war verblĂźfft: der dunkle EinfluĂ Hydes war entfernt worden; der Doktor war zu seinen alten Beschäftigungen und zum Verkehr mit seinen Freunden zurĂźckgekehrt; vor einer Woche noch hatten ihm alle Aussichten auf ein frĂśhliches und ehrenvolles Alter gelächelt â und jetzt waren in einem Augenblick Freundschaft, Seelenruhe und der ganze Inhalt eines Lebens zerschellt. Ein so groĂer und plĂśtzlicher Wechsel deutete auf Wahnsinn; aber im Hinblick auf Lanyons Benehmen und Worte muĂte irgendein tieferer Grund dafĂźr vorhanden sein.
Eine Woche darauf legte Dr. Lanyon sich zu Bett, und in weniger als vierzehn Tagen war er tot. Am Abend nach dem Begräbnis, an welchem er in tiefer Trauer teilgenommen hatte, verschloà Utterson die Tßr seines Arbeitszimmers, setzte sich bei dem Licht einer melancholischen Kerze an seinen Schreibtisch und holte einen Umschlag hervor, der von der Hand seines toten Freundes ßberschrieben und mit dessen Petschaft versiegelt war.
Er legte den Brief vor sich hin und las:
Geheim! Nur zu Händen von J. G. Utterson allein, und im Falle von dessen frßherem Hinscheiden ungelesen zu vernichten!
So lautete die bedeutungsvolle Aufschrift, und der Anwalt fĂźrchtete sich, den Inhalt anzusehen.
Ich habe heute einen Freund begraben, dachte er; wenn nun dieser Brief mir den zweiten kostete?
Dann aber wies er diese Furcht als eine Untreue von sich und erbrach das Siegel. In dem Umschlag lag noch ein, ebenfalls versiegelter Umschlag, der folgende Worte trug: ÂťNicht vor dem Tode oder Verschwinden des Dr. Henry Jekyll zu Ăśffnen.ÂŤ
Utterson konnte seinen Augen nicht trauen. Ja, hier stand Verschwinden. Auch hier wieder, wie in dem wahnsinnigen letzten Willen, den er längst seinem Freunde zurßckgegeben hatte; auch hier wieder war der Gedanke an ein Verschwinden und der Name Henry Jekyll miteinander zusammengekoppelt. Aber in dem Testament war dieser Gedanke der unheimlichen Einwirkung jenes Herrn Hyde entsprungen; damals war er in einer Absicht hineingebracht worden, die nur allzu deutlich und schrecklich war. Was konnte es bedeuten, daà dieses Wort hier von der Hand Lanyons geschrieben stand? Eine starke Neugier versuchte den Treuhänder, des Verbotes nicht zu achten und sofort diesen Geheimnissen auf den Grund zu gehen; aber Berufsehre und Treue gegen seinen toten Freund waren bindend. Und so wanderte das Paket in den hintersten Winkel seines Privatgeldschranks, um dort zu schlummern.
Ein Mann kann seine Neugier im Zaum halten; etwas anderes ist es, sie zu besiegen; und man kann daran zweifeln, ob seit jenem Tage Utterson die Gesellschaft seines ßberlebenden Freundes noch mit demselben Eifer wßnschte. Er dachte freundlich an ihn; aber seine Gedanken waren unruhig und voll Angst. Er suchte ihn allerdings auf, aber er war vielleicht erleichtert, wenn er keinen Zutritt erhielt. Vielleicht zog er im Grunde seines Herzens es vor, mit Poole auf der Tßrschwelle zu sprechen, wo ihn die frische Luft und das Geräusch der Weltstadt umgaben, statt in dieses Haus freiwilliger Gefangenschaft eingelassen zu werden, bei dem undurchdringlich rätselhaften freiwilligen Gefangenen zu sitzen und mit ihm zu sprechen.
Poole hatte ihm in der Tat nicht sehr Angenehmes mitzuteilen. Der Doktor beschränkte sich jetzt allem Anschein nach mehr denn je auf sein Arbeitszimmer Ăźber dem Laboratorium, wo er zuweilen sogar schlief. Er war vĂśllig niedergeschlagen, war sehr schweigsam geworden und las nicht einmal mehr; es hatte den Anschein, wie wenn er irgend etwas auf der Seele hätte. Utterson gewĂśhnte sich an die unveränderte Art dieser Berichte allmählich so sehr, daĂ er nach und nach seine Besuche weniger häufig werden lieĂ.
Kapitel 7: Am Fenster
An einem Sonntag, als Utterson seinen gewohnten Spaziergang mit Enfield machte, traf es sich zufällig, daĂ ihr Weg sie wieder einmal durch jene NebenstraĂe fĂźhrte; und als sie der TĂźr gegenĂźber waren, blieben beide stehen und sahen nach ihr hinĂźber.
ÂťNa,ÂŤ sagte Enfield, Âťdie Geschichte ist ja wenigstens zu Ende. Von dem Herrn Hyde werden wir nichts mehr sehen.ÂŤ
Hoffentlich nicht, sagte Utterson. Habe ich Ihnen mal erzählt, daà ich ihn sah und genau so einen Widerwillen wie Sie empfand?
ÂťDas eine war ohne das andere unmĂśglich,ÂŤ antwortete Enfield. ÂťĂbrigens â fĂźr welch einen Esel mĂźssen Sie mich gehalten haben, daĂ ich nicht wuĂte, diese TĂźr sei der hintere Eingang zu Dr. Jekylls Haus! DaĂ ich schlieĂlich doch darauf kam, daran waren zum Teil Sie selber schuld.ÂŤ
ÂťAlso haben Sie es herausgefunden? Wirklich?ÂŤ sagte Utterson. ÂťWenn das so ist, so kĂśnnen wir mal in den Hof hineingehen und nach den Fenstern hinaufsehen. Wenn ich Ihnen die Wahrheit sagen soll â ich bin unruhig Ăźber den armen Jekyll, und ich habe so ein GefĂźhl, wie wenn die Nähe eines Freundes ihm gut tun kĂśnnte â selbst wenn dieser nur drauĂen ist.ÂŤ
Der Hof war sehr kßhl und ein wenig feucht, und voll von einer verfrßhten Dämmerung, obgleich am Himmel, hoch ßber den Dächern noch hell die Sonne schien. Das mittlere von den drei Fenstern stand halb offen; und dicht am Fenster, mit einer unendlich traurigen Miene, wie ein untrÜstlicher Gefangener, die frische Luft suchend, sah Utterson Dr. Jekyll sitzen.

ÂťSieh da, Jekyll!ÂŤ rief er; Âťich hoffe, es geht dir besser.ÂŤ
ÂťMir geht es sehr schlecht, Utterson,ÂŤ antwortete der Doktor trĂźbsinnig, Âťsehr schlecht. Gott sei Dank wird es nicht lange dauern.ÂŤ
ÂťDu hockst viel zu Hause,ÂŤ sagte der Andere. ÂťDu solltest ausgehen, das Blut in Umlauf bringen, wie Herr Enfield, wie ich. (Dies ist mein Vetter â Herr Enfield â Herr Dr. Jekyll.) Komm’ doch! Nimm deinen Hut und mache schnell mit uns einen Spaziergang.ÂŤ
ÂťIhr seid sehr freundlich,ÂŤ seufzte der Andere. ÂťIch täte es herzlich gern; aber nein, nein, nein, es ist ganz unmĂśglich; ich darf nicht. Aber ich freue mich wirklich sehr, Utterson, dich zu sehen; es ist mir wahrhaftig eine sehr groĂe Freude; ich wĂźrde dich und Herrn Enfield heraufbitten â aber mein Zimmer ist tatsächlich nicht aufgeräumt.ÂŤ
ÂťNa,ÂŤ sagte der Anwalt mit seinem gutmĂźtigen Lachen, Âťdann ist es das Beste, was wir tun kĂśnnen, wir bleiben hier unten stehen und unterhalten uns von hier aus mit dir.ÂŤ
ÂťDas wollte ich auch gerade vorschlagen,ÂŤ erwiderte der Doktor mit einem Lächeln. Aber kaum waren diese Worte ausgesprochen, da verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht, und es folgte ihm ein Ausdruck von so entsetzlicher Angst und Verzweiflung, daĂ den beiden Männern unten tatsächlich das Blut in den Adern fror. Sie sahen es nur fĂźr den Bruchteil einer Sekunde, denn das Fenster wurde sofort heruntergelassen; aber diese schnellen Blicke hatten genĂźgt, sie drehten sich um und verlieĂen den Hof, ohne ein einziges Wort zu sagen.
Stillschweigend gingen sie auch die NebenstraĂe entlang, und erst als sie in die nächste groĂe StraĂe kamen, in der sogar an einem Sonntag sich etwas Leben rĂźhrte, drehte Utterson sich endlich um und sah seinen Begleiter an. Beide waren bleich, und beiden stand Entsetzen in den Augen.
ÂťGott vergebe uns, Gott vergebe uns,ÂŤ sagte Utterson.
Aber Enfield nickte nur sehr ernst und ging schweigend weiter.
Kapitel 8: Die letzte Nacht
Utterson saĂ eines Abends nach dem Essen an seinem Kaminfeuer; da erhielt er zu seiner Ăberraschung einen Besuch von Poole.
ÂťHerrje, Poole! Was bringt Sie her?ÂŤ rief er; und als er einen zweiten Blick auf ihn geworfen hatte, setzte er hinzu:
ÂťWas fehlt Ihnen? Ist der Doktor krank?ÂŤ
ÂťHerr Utterson,ÂŤ sagte der Bediente, Âťda ist irgendwas nicht in Ordnung.ÂŤ
ÂťNehmen Sie einen Stuhl, und hier ist ein Glas Wein fĂźr Sie,ÂŤ sagte der Anwalt. ÂťLassen Sie sich nur Zeit und sagen Sie mir ganz offen, was Sie wĂźnschen.ÂŤ
ÂťSie wissen ja, wie Herr Doktor ist, Herr Utterson,ÂŤ antwortete Poole, Âťund wie er sich immer einschlieĂt. Nun, er hat sich jetzt wieder in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen, und mir gefällt’s nicht. Herr â ich will auf der Stelle tot sein, wenn’s mir gefällt. Herr Utterson â ich hab Angst!ÂŤ
Na, mein guter Mann, sagte der Anwalt, erklären Sie sich deutlich. Wovor haben Sie Angst?
Ich habe schon seit ungefähr einer Woche Angst, antwortete Poole, ohne die Aufforderung des Anwalts zu beachten, und ich kann es nicht länger aushalten.
Das Aussehen des Mannes bestätigte seine Worte deutlich; er benahm sich nicht so gemessen und freundlich wie sonst immer und hatte auĂer im ersten Augenblick, als er von seiner Angst gesprochen hatte, dem Anwalt nicht ein einziges Mal ins Gesicht gesehen. Auch jetzt saĂ er, sein unberĂźhrtes Glas Wein auf dem Knie, und sah in eine Ecke des Zimmers hinein.
ÂťIch kann’s nicht mehr aushalten,ÂŤ wiederholte er.
Nu nu, sagte der Anwalt, ich sehe, Sie haben irgendeine gute Ursache, Poole; ich sehe, es ist irgend etwas Ernstes vorgefallen. Versuchen Sie, mir zu erzählen, was es ist!
ÂťIch denke, da sind faule Sachen los,ÂŤ sagte Poole heiser.
ÂťFaule Sachen?ÂŤ rief der Anwalt, wirklich erschrocken und infolgedessen geneigt, bĂśse zu werden. Was redet er von faulen Sachen? Was meint der Mann damit? dachte er bei sich selber.
ÂťIch wage es nicht zu sagen, Herr,ÂŤ war die Antwort; Âťaber wollen Sie nicht mitkommen und selber mal nachsehen?ÂŤ
Uttersons einzige Antwort bestand darin, daĂ er aufstand und seinen Hut und Mantel nahm; aber er bemerkte mit Verwunderung, welche groĂe Erleichterung sich auf dem Gesicht des Dieners zeigte, und vielleicht mit nicht geringerer, daĂ der Wein noch immer unberĂźhrt war, als der Mann das Glas hinsetzte, um ihm zu folgen.
Es war eine wilde, kalte Märznacht, ganz der Jahreszeit angemessen; eine blasse Mondsichel lag auf dem RĂźcken, wie wenn der Sturm sie umgeworfen hätte â ein Mond wie von ganz durchsichtigem, dĂźnnem Gespinst. Der Sturm machte Sprechen schwierig und trieb den beiden das Blut ins Gesicht. Er schien auĂerdem die StraĂen in ungewĂśhnlicher Weise von Menschen leergefegt zu haben; denn es kam Utterson vor, wie wenn er diesen Teil von London niemals so verlassen gesehen hätte. Ihm wäre lieber gewesen, Menschen zu sehen; niemals in seinem Leben hatte er sich so sehr gesehnt, seine MitgeschĂśpfe zu sehen und zu berĂźhren; denn so sehr er auch dagegen ankämpfte, auf seiner Seele lag eine drĂźckende Vorahnung von Unheil.
Als sie auf den Platz kamen, an dem des Doktors Haus lag, war alles voll von Wind und Staub und die dßnnen Bäume in den Anlagen bogen sich ßber das Gitter.
Poole, der die ganze Zeit Ăźber ein paar Schritte voraus gewesen war, blieb jetzt mitten auf dem Pflaster stehen, nahm trotz der scharfen Kälte seinen Hut ab und wischte sich mit einem roten Taschentuch die Stirne ab. Aber die SchweiĂtropfen, die er wegwischte, hatte nicht das schnelle Laufen herausgetrieben, sondern irgendeine ihn erstickende Angst; denn sein Gesicht war weiĂ, und seine Stimme, als er nun sprach, war rauh und gebrochen.
ÂťNun, Herr Utterson,ÂŤ sagte er, Âťda sind wir â und Gott gebe, es mĂśge nichts Schlimmes sein.ÂŤ
ÂťAmen, Poole!ÂŤ sagte der Andere.
Dann klopfte der Bediente sehr leise und vorsichtig an; die TĂźr wurde geĂśffnet, soweit die Kette reichte, und eine Stimme fragte von drinnen:
ÂťSind Sie das, Poole?ÂŤ
ÂťAlles in Ordnung, Ăśffnet die TĂźr.ÂŤ
Die Halle, die sie nun betraten, war hell erleuchtet; im Kamin brannte ein hochaufgestapeltes Feuer, und ringsherum stand die ganze Dienerschaft, Männer und Weiber, aneinandergedrängt wie eine Herde Schafe. Bei Uttersons Anblick brach das Stubenmädchen in ein hysterisches Wimmern aus, und die KĂśchin schrie auf: ÂťGott sei Dank â da ist Herr Utterson!ÂŤ und lief auf ihn zu, wie wenn sie ihn umarmen wollte.
ÂťNanu? Seid ihr alle hier?ÂŤ sagte der Anwalt verdrieĂlich. ÂťSehr ungehĂśrig, sehr unpassend! Eurem Herrn wĂźrde das durchaus nicht gefallen!ÂŤ
ÂťSie haben alle Angst,ÂŤ sagte Poole.
Totenstille folgte â niemand sagte etwas dagegen; nur das Stubenmädchen erhob ihre Stimme und weinte jetzt laut.
Halt deinen Mund! sagte Poole zu ihr mit einer Grobheit, die ein Beweis war, wie nervÜs er selber war. Und in der Tat, als das Mädchen so plÜtzlich ihr Jammergeschrei erhoben hatte, waren sie alle aufgefahren und blickten mit Gesichtern voll von erschrockener Erwartung nach der Innentßr.
ÂťUnd nun,ÂŤ fuhr Poole fort und wandte sich an den Messerputzer, Âťgib mir eine Kerze, wir wollen der Sache jetzt sofort auf den Grund gehen.ÂŤ
Dann bat er Herrn Utterson, ihm zu folgen, und ging ihm voran nach dem Hintergarten. Dort sagte er:
ÂťNun, Herr Utterson, gehen Sie bitte so leise, wie Sie kĂśnnen. Ich mĂśchte, daĂ Sie hĂśren, aber nicht gehĂśrt werden. Und dann â verzeihen Sie, Herr! â sollte er zufällig Sie zu sich hereinbitten â dann gehen Sie nicht!ÂŤ
Diese ganz unerwartete Aufforderung gab Uttersons Nerven einen StoĂ, daĂ er beinahe aus seinem Gleichgewicht gekommen wäre; aber er nahm seinen Mut zusammen und folgte dem Diener in das Laboratoriumsgebäude und durch das chirurgische Amphitheater mit seinem Plunder von Kistendeckeln und Flaschen bis an den FuĂ der Treppe. Hier gab Poole ihm einen Wink, auf die Seite zu treten und zu horchen, während er selber die Kerze auf den FuĂboden setzte, mit einem groĂen EntschluĂ, den Utterson ihm deutlich ansah, seinen ganzen Mut zusammennahm, die Stufen hinaufstieg und mit einer etwas unsicheren Hand an den roten Fries der TĂźr zum Arbeitszimmer klopfte.
ÂťHerr Utterson, Herr, wĂźnscht Sie zu sehen,ÂŤ rief er und machte dabei dem Anwalt noch heftigere Zeichen, ja genau zuzuhĂśren.
Eine Stimme antwortete von drinnen in klagendem Ton:
ÂťSag ihm, ich kĂśnne keinen Menschen sehen.ÂŤ
ÂťDanke, Herr,ÂŤ sagte Poole und in seiner Stimme klang etwas wie Triumph; dann nahm er seine Kerze auf und fĂźhrte Utterson Ăźber den Hof zurĂźck und in die groĂe KĂźche, in der das Feuer ausgegangen war und die Schwaben Ăźber den FuĂboden huschten.
ÂťHerr Utterson,ÂŤ sagte er, dem Anwalt fest in die Augen blickend, Âťwar das meines Herrn Stimme?ÂŤ
ÂťSie schien sehr verändert zu sein,ÂŤ antwortete Utterson, sehr blaĂ, aber den Blick des Haushofmeisters fest erwidernd.
ÂťVerändert? Nu ja, das meine ich auch,ÂŤ sagte dieser. ÂťBin ich zwanzig Jahre im Hause meines Herrn gewesen, daĂ ich mich in seiner Stimme täuschen kĂśnnte? Nein, Herr! Unser Herr ist auf die Seite gebracht worden; vor acht Tagen wurde er auf die Seite gebracht â da hĂśrten wir ihn laut Gottes Namen anrufen! Und wer an seiner Stelle drinnen ist, und warum er drinnen ist â das ist ein Ding, das zum Himmel schreit, Herr Utterson!ÂŤ
ÂťWas Sie da sagen, Poole, ist sehr sonderbar; das ist eigentlich eine wahnsinnige Geschichte, mein guter Mann,ÂŤ sagte Utterson und biĂ sich dabei auf den Finger. ÂťAngenommen, es wäre so, wie Sie annehmen, â angenommen, Dr. Jekyll wäre ⌠na ja, ermordet â was kĂśnnte den MĂśrder veranlassen, drinnen zu bleiben? Eine solche Annahme ist nicht stichhaltig, läĂt sich nicht mit der Vernunft zusammenreimen.ÂŤ
ÂťNun, Herr Utterson, Sie sind schwer zu Ăźberzeugen, aber ich werde Sie doch Ăźberzeugen!ÂŤ sagte Poole: ÂťSie mĂźssen wissen, diese ganze letzte Woche hat er, oder es, oder was auch immer da in dem Arbeitszimmer hausen mag, Tag und Nacht nach irgendeiner Medizin geschrien und kann sie nicht so kriegen, wie er sie haben will. Er hatte es so manchmal an sich â unser Herr nämlich â seine Befehle auf ein Blatt Papier zu schreiben und dieses auf die Treppe zu werfen. Diese ganze letzte Woche haben wir nichts anderes gehabt â nichts als Papiere, und dazu eine verschlossene TĂźr, und sogar das Essen wurde auf die Treppe gestellt und heimlich hereingeholt, wenn’s niemand sah. Nun, Herr, jeden Tag â ja sogar zweimal und dreimal an demselben Tage, hat es Befehle und Beschwerden gegeben, und ich habe bei allen groĂen Apothekern in der Stadt herumlaufen mĂźssen. Jedesmal, wenn ich das Zeug brachte, kam ein neues Papier: ich sollte es wieder zurĂźckbringen, denn es wäre nicht rein â und ein neuer Auftrag an eine andere Firma. Diese Droge wird bitter notwendig gebraucht, Herr â mag es sein, wozu es will.ÂŤ
ÂťHaben Sie eins von diesen Papieren bei sich?ÂŤ fragte Utterson.
Poole suchte in seinen Taschen und brachte einen verknitterten Zettel zum Vorschein, den der Anwalt sorgfältig prßfte, indem er ihn nahe an die Kerze hielt. Der Inhalt lautete:
ÂťDr. Jekyll sendet den Herren Maw seine Empfehlungen. Er versichert ihnen, daĂ ihre letztgesandte Probe unrein und fĂźr seine augenblicklichen Zwecke ganz wertlos ist. Im Jahre 18.. kaufte Dr. J. eine ziemlich groĂe Quantität von den Herren M. Er bittet sie jetzt, mit der grĂśĂten Sorgfalt nachsuchen zu lassen und, wenn noch etwas von derselben Ăźbrig sein sollte, ihm diese sofort zu liefern. Kosten spielen keine Rolle. Die Wichtigkeit der Lieferung fĂźr Dr. J. kann kaum genĂźgend bezeichnet werden.ÂŤ
Soweit war der Brief ganz vernĂźnftig abgefaĂt; aber an dieser Stelle war die Aufregung des Schreibers plĂśtzlich durchgebrochen: die Feder hatte einen groĂen Klecks gemacht, und eine Nachschrift lautete:
ÂťUm Gottes willen! Finden Sie mir etwas von der alten Sorte!ÂŤ
ÂťDas ist ein sonderbarer Brief,ÂŤ sagte Utterson; dann fragte er in scharfem Ton:
ÂťWie kommen Sie dazu, daĂ Sie ihn offen bei sich haben?ÂŤ
ÂťDer Angestellte bei Maws war ganz wĂźtend, Herr Utterson, und warf mir den Zettel zu, wie’n StĂźck Dreck!ÂŤ antwortete Poole.
ÂťEs ist doch unfraglich Herrn Doktors Handschrift, nicht wahr?ÂŤ begann der Anwalt nach einer kleinen Weile wieder.
ÂťEs kam mir so vor,ÂŤ sagte der Diener ziemlich verdrieĂlich; dann aber flĂźsterte er mit veränderter Stimme:
ÂťAber was kommt es auf die Handschrift an! Ich habe ihn gesehen!ÂŤ
ÂťIhn gesehen?ÂŤ wiederholte Utterson. ÂťNun?ÂŤ
ÂťJawohl, gesehen,ÂŤ sagte Poole. ÂťEs war so: Ich kam plĂśtzlich vom Garten her ins Amphitheater. Er war, scheint’s, rausgeschlĂźpft, um nach dieser Droge zu sehen oder nach sonst was, denn die TĂźr zum Studierzimmer stand offen, und er stand am andern Ende des Raumes und kramte unter den Kistendeckeln herum. Er sah auf, als ich hineinkam, stieĂ eine Art von Schrei aus und witschte die Treppe hinauf in sein Zimmer hinein. Es war bloĂ die eine einzige Minute, daĂ ich ihn sah â aber die Haare standen mir auf dem Kopf wie Federposen. Herr Utterson â wenn das mein Herr war, warum hatte er eine Maske vor seinem Gesicht? Wenn das mein Herr war, warum quiekte er auf wie eine Ratte und lief vor mir weg? Ich habe ihm lange genug gedient und dann âŚÂŤ Der Mann stockte und fuhr sich mit der Hand Ăźber das Gesicht.
ÂťDas sind lauter sehr sonderbare Umstände,ÂŤ sagte Utterson, Âťaber ich denke, ich fange an Tageslicht zu sehen! Euer Herr, Poole, ist offenbar von einer jener Krankheiten befallen, die groĂe Schmerzen machen und zugleich den Leidenden entstellen; daher, nach meiner Meinung, die Veränderung der Stimme; daher die Maske und die Sucht, Begegnungen mit seinen Freunden zu vermeiden; daher der Eifer, diese Droge zu erhalten, durch deren Anwendung die arme Seele noch eine kĂźmmerliche Hoffnung zu haben glaubt, schlieĂlich wieder gesund zu werden â gebe Gott, daĂ er sich nicht täuschen mĂśge! Das ist meine Erklärung â sie ist traurig genug, Poole, gewiĂ, und geradezu schrecklich, wenn man sie recht Ăźberdenkt; aber sie ist einfach und natĂźrlich, paĂt in allen StĂźcken gut zusammen und befreit uns von allen unnatĂźrlichen Beunruhigungen.ÂŤ
ÂťHerr Utterson,ÂŤ sagte der Diener und auf seinem bleichen Gesicht rief die Aufregung rote Flecken hervor: ÂťDas Ding war nicht mein Herr â und das ist die Wahrheit! Mein HerrÂŤ â hier sah er sich rund um und senkte seine Stimme zum FlĂźstern â Âťist ein groĂer, schĂśngewachsener Mann, und diese Gestalt war beinahe ein Zwerg.ÂŤ
Utterson machte einen Versuch, ihn von diesem Gedanken abzubringen, aber Poole rief:
ÂťOh! Herr! Glauben Sie, ich kenne meinen Herrn nicht, jetzt nach zwanzig Jahren? Glauben Sie, ich wisse nicht, wie hoch sein Kopf an dem TĂźrpfosten seines Zimmers hinaufreicht, wo ich ihn jeden Morgen meines Lebens sah? Nein, Herr! Das Ding mit der Maske war nie und nimmer Dr. Jekyll â Gott weiĂ, was es war, aber Dr. Jekyll war es nie und nimmer; und ich glaube steif und fest: da ist ein Mord vollbracht worden.ÂŤ
ÂťPoole,ÂŤ antwortete der Anwalt, Âťwenn Sie mir das sagen, wird es meine Pflicht sein, den Tatbestand festzustellen. So sehr ich auch wĂźnsche, Ihres Herrn GefĂźhle zu schonen â und so rätselhaft mir auch dieser Brief ist, der zu beweisen scheint, daĂ er noch am Leben ist, so werde ich es doch als meine Pflicht ansehen, mit Gewalt seine ZimmertĂźr erbrechen zu lassen.ÂŤ

ÂťAch, Herr Utterson, das ist einmal vernĂźnftig gesprochen!ÂŤ rief der Diener.
ÂťUnd jetzt kommt die zweite Frage,ÂŤ fuhr Utterson fort: ÂťWer soll das tun?ÂŤ
ÂťNun, Herr â Sie und ich!ÂŤ antwortete Poole ohne ZĂśgern.
ÂťDas war brav gesprochen,ÂŤ sagte der Anwalt, Âťund welche Folgen dann auch noch kommen mĂśgen, ich werde dafĂźr sorgen, daĂ Sie nicht dabei zu Schaden kommen.ÂŤ
ÂťIm Theater ist ein Beil,ÂŤ fuhr Poole fort; Âťund Sie kĂśnnten fĂźr sich selber den KĂźchenschĂźrhaken nehmen.ÂŤ
Der Anwalt nahm das plumpe, aber schwere Werkzeug und wog es in der Hand; dann sagte er, indem er den Diener ansah:
Wissen Sie auch, Poole, daà wir beide im Begriff stehen, uns in eine ziemlich gefährliche Lage zu bringen?
ÂťDas kĂśnnen Sie wohl sagen, Herr Utterson.ÂŤ
ÂťNun, dann ist’s auch richtig, daĂ wir offen miteinander sprechen! Wir denken uns beide mehr, als wir gesagt haben; wir wollen doch lieber frei von der Leber weg reden: diese maskierte Gestalt, die Sie sahen â erkannten Sie die?ÂŤ
ÂťTja, Herr, â sie lief so geschwind, und das GeschĂśpf war so zusammengeduckt, daĂ ich kaum drauf schwĂśren kĂśnnte, wen ich sah. Aber wenn Sie fragen wollen: war es der Herr Hyde? â na ja, ich denke, er war es! Sehen Sie: die GrĂśĂe war so ziemlich dieselbe, und es waren auch seine schnellen, leichten Bewegungen; und dann â wer anders hätte durch die LaboratoriumstĂźr hineinkommen kĂśnnen? Sie haben wohl nicht vergessen, Herr Utterson, daĂ er zur Zeit, als der Mord geschah, immer den SchlĂźssel bei sich hatte? Aber das ist noch nicht alles! Ich weiĂ nicht, Herr Utterson, ob Sie jemals diesem Herrn Hyde begegnet sind?ÂŤ
ÂťJa,ÂŤ sagte der Anwalt, Âťich sprach einmal mit ihm.ÂŤ
ÂťDann wissen Sie so gut wie all wir andern, daĂ an dem Herrn etwas Sonderbares war â etwas, wovor einem schauderte â ich weiĂ nicht recht, wie ich es ausdrĂźcken soll, Herr; ich mĂśchte sagen: man fĂźhlte in seinem Mark eine Art Kälte und Schwäche.ÂŤ
ÂťIch gestehe, daĂ ich so etwas fĂźhlte, wie Sie es da beschreiben,ÂŤ sagte Utterson.
ÂťGanz recht, Herr! Nun, als dieses maskierte Ding wie ein Affe von den chemischen Apparaten fortsprang und in das Arbeitszimmer witschte, da rann es mir wie Eis am RĂźckgrat herunter. Oh â ich weiĂ, das ist kein gĂźltiger Zeugenbeweis, Herr Utterson; soviel habe ich auch aus Zeitungen und BĂźchern gelernt â aber ein Mensch hat seine GefĂźhle, und ich gebe Ihnen mein Bibelwort: es war Herr Hyde!ÂŤ
ÂťJa, ja!ÂŤ sagte der Anwalt. ÂťMeine BefĂźrchtungen gehen in dieselbe Richtung. Auf BĂśsem, fĂźrchte ich, war diese Verbindung begrĂźndet â und BĂśses muĂte die sichere Folge davon sein. Ja, in allem Ernst â ich glaube Ihnen, ich glaube, mein armer Henry ist ermordet worden; und ich glaube, sein MĂśrder haust immer noch im Zimmer des Opfers â zu welchem Zweck, das kann Gott allein sagen! Nun, so wollen wir die Rache vollziehen! Rufen Sie Bradshaw!ÂŤ
Der Lakai kam auf die Aufforderung, aber sehr bleich und ängstlich.
ÂťRappeln Sie sich zusammen, Bradshaw!ÂŤ sagte der Anwalt. ÂťIch weiĂ wohl, diese ungewisse Erwartung geht euch allen auf die Nerven; aber wir gedenken jetzt der Sache ein Ende zu machen. Poole und ich wollen mit Gewalt in das Zimmer eindringen. Wenn alles in Ordnung ist, sind meine Schultern breit genug, um die Verantwortung dafĂźr auf mich zu nehmen. Indessen fĂźr den Fall, daĂ wirklich etwas BĂśses im Werk ist oder daĂ ein Verbrecher versuchen sollte, durch die HintertĂźr zu entkommen, mĂźssen Sie und der Junge mit ein paar guten StĂścken um die StraĂenecke herumgehen und sich an der LaboratoriumstĂźr aufstellen. Wir geben euch zehn Minuten Zeit, um auf euren Posten zu kommen.ÂŤ
Als Bradshaw ging, sah der Anwalt nach seiner Uhr; dann sagte er: ÂťUnd nun, Poole, wollen wir auf unsere Posten gehen!ÂŤ â nahm den SchĂźrhaken unter den Arm und ging dem Diener voran in den Hof.
Die Regenwolken hatten sich Ăźber den Mond gezogen, und es war jetzt vollständig dunkel. Der Sturm, der nur stoĂweise in den Hof eindrang, welcher zwischen den Gebäuden wie ein tiefer Brunnen lag, lieĂ das Licht ihrer Kerze hin und her flattern, bis sie in den Windschutz des Amphitheaters kamen, wo sie sich schweigend hinsetzten und warteten. Rings in der Runde brauste der ungeheure Lärm Londons, zu einem feierlichen Klang abgedämpft; aber ganz nahe bei ihnen wurde die Stille nur durch das Geräusch von Schritten unterbrochen, die im Studierzimmer unaufhĂśrlich auf und ab gingen.
ÂťSo wandert es den ganzen Tag, Herr!ÂŤ flĂźsterte Poole; Âťja, und auch den grĂśĂeren Teil der Nacht; nur wenn eine neue Probe vom Apotheker kommt, gibt es eine kleine Unterbrechung. Oh! das ist ein bĂśses Gewissen, das solch ein Feind der Ruhe ist! O Herr â in jedem dieser Schritte ist reichlich vergossenes Blut! Aber horchen Sie, kommen Sie doch etwas näher â horchen Sie mit Ihrem ganzen Herzen, Herr Utterson, und sagen Sie mir: ist das des Doktors Schritt?ÂŤ
Die Schritte waren leicht und unregelmäĂig; es war ein gewisser Schwung in ihnen, obgleich sie langsam waren; der Schritt war tatsächlich verschieden von dem schweren Auftreten Henry Jekylls. Utterson seufzte und fragte:
ÂťHĂśrten Sie niemals etwas anderes als diese Schritte?ÂŤ
Poole nickte und sagte:
ÂťEinmal. Einmal hĂśrte ich es weinen!ÂŤ
ÂťWeinen, wieso?ÂŤ rief der Anwalt, und ein kalter Schauder Ăźberrann ihn plĂśtzlich.
Weinen wie ein Weib oder eine verlorene Seele! antwortete der Haushofmeister. Es schnitt mir selber so ins Herz, daà auch ich hätte weinen mÜgen.
Aber die zehn Minuten waren jetzt zu Ende. Poole holte das Beil unter einem Haufen Packstroh hervor; die Kerze wurde auf den nächsten Tisch gesetzt, um ihnen bei dem Sturmangriff zu leuchten. Dann gingen sie mit angehaltenem Atem bis an die TĂźr heran, hinter der jener unermĂźdliche FuĂ immer noch auf und ab ging â auf und ab, in der Ruhe der Nacht.
ÂťJekyll!ÂŤ rief Utterson mit lauter Stimme, Âťich wĂźnsche dich zu sehen.ÂŤ
Er schwieg einen Augenblick, aber es kam keine Antwort.
ÂťIch warne dich allen Ernstes: Wir haben Verdacht, und ich muĂ und werde dich sehen â wenn nicht mit deiner Zustimmung, dann mit Gewalt!ÂŤ
ÂťUtterson,ÂŤ sagte die Stimme, Âťum Gottes willen, habe Erbarmen!ÂŤ
ÂťAh! Das ist nicht Jekylls Stimme, das ist Hydes Stimme!ÂŤ schrie Utterson. ÂťNieder mit der TĂźr!ÂŤ
Poole schwang das Beil ßber seiner Schulter; der Schlag erschßtterte das Gebäude, und die rote Friestßr krachte gegen Schloà und Angeln an. Ein fßrchterliches Kreischen, wie in reiner tierischer Angst, erklang aus dem Studierzimmer. Wieder ging das Beil hoch, und wieder krachten die Bretter und wankten die Pfosten. Viermal fiel der Schlag; aber das Holz war zäh, und die Tßr war ausgezeichnet gearbeitet; und erst beim fßnften Schlage sprang plÜtzlich das Schloà auf und die Trßmmer der Tßr fielen ins Zimmer hinein auf den Teppich.
Die Belagerer Ăźberfiel ein plĂśtzliches Entsetzen in der Stille, die auf den von ihnen gemachten Lärm gefolgt war; sie traten ein wenig zurĂźck und spähten in das Zimmer hinein. Da lag es vor ihren Augen in dem ruhigen Lampenlicht. Ein gutes Feuer leuchtete und knisterte im Kamin; der Teekessel summte seine feinen Melodien; ein paar Schubladen waren herausgezogen; auf dem Schreibtisch lagen die Papiere in guter Ordnung und näher am Feuer war alles sauber zum Teetrinken hergerichtet â man hätte sagen mĂśgen: das friedlichste Zimmer in ganz London in dieser Nacht.
Mitten auf dem Teppich lag der KĂśrper eines Mannes, dessen Glieder grausig verschlungen waren und noch zuckten. Die beiden Männer gingen auf den FuĂspitzen heran, legten den KĂśrper auf den RĂźcken und erblickten das Antlitz von Edward Hyde. Er trug Kleider, die ihm viel zu groĂ waren â Kleider fĂźr einen Mann von der GrĂśĂe des Doktors; die Muskeln seines Gesichtes zuckten, wie wenn er noch lebte â aber das Leben war bereits ganz entschwunden, und an der zerbrochenen Phiole, die er in der Hand hielt, und an dem scharfen Geruch von bitteren Mandeln, der die Luft erfĂźllte, erkannte Utterson, daĂ er den Leichnam eines SelbstmĂśrders vor sich sah.
Wir sind zu spät gekommen, sagte er ernst: zu spät zu Rettung wie zu Bestrafung. Hyde ist gegangen, um seine Rechenschaft abzulegen; und uns bleibt nur noch ßbrig, die Leiche Ihres Herrn zu finden.
Bei weitem der grĂśĂere Teil des Gebäudes wurde von dem Amphitheater eingenommen, das fast den ganzen Raum ausfĂźllte und von oben her sein Licht empfing, und von dem Arbeitszimmer, das an dem einen Ende ein oberes Stockwerk bildete und auf den Hof hinausging. Ein Korridor verband den Anatomiesaal mit der HintertĂźr in der NebenstraĂe, und mit diesem Korridor stand auch das Arbeitszimmer noch auĂerdem durch eine zweite Treppe in Verbindung. Sonst waren nur noch ein paar dunkle Kammern und ein geräumiger Keller vorhanden. Alle diese Räume wurden jetzt von ihnen genau durchsucht. Jede Kammer erforderte nur einen Blick; denn sie waren alle leer und waren alle seit langer Zeit nicht geĂśffnet worden, wie aus dem Staub hervorging, der vor ihren TĂźren beim Ăffnen herabfiel. Der Keller war allerdings mit allerlei GerĂźmpel angefĂźllt, das zum grĂśĂten Teil noch von dem Chirurgen, Jekylls Vorgänger, herstammte; aber in dem Augenblick, als sie die TĂźre Ăśffneten, wurde ihnen die Zwecklosigkeit einer weiteren Nachforschung im Keller klar, denn es fiel ein groĂes Spinngewebe herab, das seit Jahren schon diesen Eingang Ăźbersponnen hatte. Nirgends war eine Spur von einem toten oder lebenden Jekyll.
Poole stampfte auf die Fliesen des Korridors, lauschte auf den Klang und sagte:
ÂťEr muĂ hier vergraben sein.ÂŤ
ÂťOder er kann auch geflohen sein,ÂŤ sagte Utterson und wandte sich nach der HintertĂźr, um auch diese zu untersuchen. Sie war verschlossen, und dicht neben ihr auf den Fliesen fanden sie den SchlĂźssel, der bereits verrostet war.
Der sieht nicht danach aus, wie wenn er gebraucht worden wäre.
Gebraucht? wiederholte Poole. Sehen Sie nicht, Herr Utterson, daà er zerbrochen ist? wie wenn jemand darauf herumgetrampelt hätte!
Jawohl, bestätigte Utterson, und die Bruchstellen sind auch schon verrostet.
Die beiden Männer sahen einander entsetzt an.
ÂťDies geht Ăźber meine Begriffe, Poole!ÂŤ sagte der Anwalt; Âťwir wollen wieder ins Arbeitszimmer gehen.ÂŤ
Schweigend stiegen sie die Treppe hinauf und gingen daran, mit einem gelegentlichen schaudernden Seitenblick auf den Leichnam, die Gegenstände in dem Zimmer grĂźndlicher zu untersuchen. Auf dem einen Tisch befanden sich Spuren chemischer Arbeiten: verschiedene abgemessene Häufchen eines weiĂen Salzes waren auf kleine Glasschalen gelegt, wie fĂźr ein Experiment, in welchem der unglĂźckliche Mensch unterbrochen worden wäre.
ÂťDas ist dieselbe Droge, die ich ihm fortwährend brachte,ÂŤ sagte Poole; und er hatte diese Worte noch nicht beendigt, da kochte plĂśtzlich der Teekessel mit starkem Zischen Ăźber. Dies veranlaĂte sie, sich dem Kamin zuzuwenden, an den der Lehnstuhl bequem herangerĂźckt war; das Teegeschirr stand fertig neben der Armlehne; der Zucker war sogar schon in die Tasse getan. Auf einem kleinen Gestell lagen mehrere BĂźcher; ein anderes Buch lag aufgeschlagen neben dem Teegeschirr, und Utterson fand zu seinem Erstaunen, daĂ es ein Andachtsbuch war, von welchem Jekyll zu verschiedenen Malen mit hoher Achtung gesprochen hatte â und dieses Buch war in seiner eigenen Handschrift am Rande mit entsetzlichen Gotteslästerungen versehen!
Ihre Durchsuchung des Zimmers fßhrte sie hierauf zunächst an den Drehspiegel, in dessen Tiefen sie mit unwillkßrlichem Schauder blickten. Aber er war so gedreht, daà er ihnen nichts zeigte, als den rÜtlichen Feuerschein, der auf der Zimmerdecke spielte, das lodernde Kaminfeuer, das sich hundertmal auf den Glasscheiben der Schränke ringsum wiederholte, und ihre eigenen bleichen, angstvollen Gesichter, die sich ßber ihn beugten.
ÂťDieser Spiegel hat manche seltsamen Dinge gesehen, Herr!ÂŤ flĂźsterte Poole.
ÂťUnd gewiĂ ist nichts seltsamer, als dieser Spiegel selbst,ÂŤ sagte der Anwalt in demselben FlĂźsterton. ÂťWozu brauchte Jekyll âÂŤ bei diesem Wort fuhr er unwillkĂźrlich zusammen; aber er Ăźberwand seine Schwäche und beendigte den Satz: Âťwozu konnte Jekyll ihn nĂśtig haben?ÂŤ
ÂťDas mĂśgen Sie wohl sagen!ÂŤ sagte Poole.
Sodann wandten sie sich zu dem Arbeitstisch. Auf der Schreibmappe, die zwischen den sorgfältig geordneten Papieren lag, sahen sie obenauf einen groĂen Briefumschlag liegen, worauf in des Doktors Handschrift Uttersons Name geschrieben stand. Der Anwalt erbrach das Siegel, und verschiedene Einlagen fielen auf den FuĂboden. Die erste war ein Testament, in denselben exzentrischen AusdrĂźcken abgefaĂt, wie jenes, das er vor sechs Monaten zurĂźckgegeben hatte; dieser Letzte Wille sollte als Testament im Falle des Todes und als Schenkung im Falle des Verschwindens dienen; aber statt des Namens Edward Hyde las der Anwalt zu seinem unbeschreiblichen Erstaunen den Namen Gabriel John Utterson. Er blickte auf Poole, und dann wieder auf das Papier, und zuletzt auf den toten Verbrecher, der auf dem Teppich ausgestreckt lag.
ÂťMir wirbelt der Kopf!ÂŤ sagte er. ÂťEr ist alle diese Tage Ăźber im Besitz dieses Testaments gewesen; er hatte keine Ursache mich zu lieben; er muĂ innerlich gewĂźtet haben, sich selber als Erben verdrängt zu sehen â und trotzdem hat er dieses SchriftstĂźck nicht vernichtet!ÂŤ
Er nahm das nächste Papier auf; es war ein kurzer Brief in des Doktors Handschrift und am oberen Rande mit dem Datum versehen.
ÂťOh! Poole!ÂŤ rief der Anwalt; Âťer war heute noch am Leben und hier in diesem Zimmer, er kann in einem so kurzen Zeitraum nicht beiseite geschafft worden sein â er muĂ noch am Leben, muĂ geflohen sein! Aber freilich â warum kann er geflohen sein? und wie? Und kĂśnnen wir in diesem Fall es wagen, diesen Selbstmord anzuzeigen? Oh, wir mĂźssen vorsichtig sein. Ich sehe voraus, daĂ wir vielleicht Ihren Herrn in irgendeine schreckliche Katastrophe hineinverwickeln.ÂŤ
ÂťWarum lesen Sie den Brief nicht, Herr Utterson?ÂŤ fragte Poole.
ÂťWeil ich Furcht habe,ÂŤ antwortete der Anwalt feierlich; Âťgebe Gott, ich mĂśge keine Ursache dazu haben!ÂŤ
Und er hielt das Blatt dicht an seine Augen und las folgendes:
ÂťMein lieber Utterson â wenn dies in Deine Hände gerät, werde ich verschwunden sein; unter was fĂźr Umständen, das vorauszusehen ist mein Scharfsinn nicht imstande; aber mein Instinkt und alle Umstände meiner unbeschreiblichen Lage sagen mir, daĂ das Ende gewiĂ ist und bald kommen muĂ. So lies denn zuerst den Bericht, den Lanyon, wie er mir mitteilte, Deinen Händen anzuvertrauen gedachte; und wenn Du dann noch mehr hĂśren magst, lies auch die Beichte
Deines unwĂźrdigen und unglĂźcklichen Freundes
Henry Jekyll.ÂŤ
ÂťEs war noch eine dritte Einlage da?ÂŤ fragte Utterson.
ÂťHier, Herr!ÂŤ
Und Poole reichte ihm ein ziemlich dickes Paket, das an verschiedenen Stellen versiegelt war.
Der Anwalt steckte es in seine Tasche und sagte zu dem Haushofmeister:
ÂťIch will von diesem Papier nichts sagen. Wenn Ihr Herr entflohen oder tot ist, wollen wir doch wenigstens seinen guten Namen retten. Es ist jetzt zehn Uhr; ich muĂ nach Hause gehen und diese SchriftstĂźcke in Ruhe lesen; aber ich werde vor Mitternacht wieder hier sein, und dann wollen wir nach der Polizei schicken.ÂŤ
Sie gingen hinaus und verschlossen die Tßr des Amphitheaters hinter sich. Die Dienerschaft blieb am Kamin in der Halle, in Grauen und Angst sich zusammendrängend. Utterson aber eilte in seine Wohnung zurßck, um die beiden Berichte zu lesen, durch die dieses Geheimnis jetzt seine Aufklärung finden sollte.
Kapitel 9: Dr. Lanyons Bericht
Am 9. Januar, heute vor vierzehn Tagen, erhielt ich mit der Abendpost einen eingeschriebenen Brief, der von der Hand meines Kollegen und alten Schulkameraden Henry Jekyll Ăźberschrieben war. Ich war sehr Ăźberrascht; denn wir pflegten nicht schriftlich miteinander zu verkehren. Ich hatte ihn erst am Abend vorher gesehen und mit ihm zusammen gespeist, und ich konnte mir nicht denken, daĂ etwas in unserem Verkehr die FĂśrmlichkeit eines eingeschriebenen Briefes notwendig machen kĂśnnte. Der Inhalt des Briefes vermehrte meine Verwunderung; denn er lautete folgendermaĂen:
ÂťLieber Lanyon â Du bist einer meiner ältesten Freunde, und obwohl wir vielleicht zeitweise in wissenschaftlichen Fragen verschiedener Meinung gewesen sind, kann ich mich doch nicht erinnern, daĂ unsere freundschaftliche Zuneigung jemals einen Bruch erlitten habe â wenigstens ist das auf meiner Seite nicht der Fall gewesen. Niemals hat es einen Tag gegeben, an dem ich nicht, wenn Du zu mir gesagt hättest: âşJekyll, mein Leben, meine Ehre, meine Vernunft hängen von Dir abâš â ohne Bedenken sofort mein VermĂśgen oder meine linke Hand geopfert haben wĂźrde, um Dir zu helfen. Lanyon! Mein Leben, meine Ehre, meine Vernunft stehen ganz und gar in Deiner Hand; wenn Du mich heute abend im Stich läĂt, bin ich verloren.
Du kĂśnntest, nach dieser Vorrede, vielleicht annehmen, daĂ ich vielleicht etwas Unehrenhaftes von Dir verlangen wollte. Urteile selber:
Ich bitte Dich, fĂźr heute abend alle anderen Verpflichtungen hintenanzusetzen â ja, selbst wenn Du an das Krankenbett eines Kaisers gerufen wĂźrdest! Ich bitte Dich, eine Droschke zu nehmen, wenn nicht etwa Dein eigener Wagen gerade in dieser Minute vor Deiner TĂźr steht, und mit diesem Briefe in der Hand auf dem nächsten Wege nach meinem Hause zu fahren. Mein Haushofmeister Poole hat seine Befehle; Du wirst ihn mit einem Schlosser auf Deine Ankunft wartend finden. Hierauf ist die TĂźr meines Arbeitszimmers zu erbrechen. Dann muĂt Du allein hineingehen, den mit dem Buchstaben E bezeichneten Glasschrank zur linken Hand Ăśffnen, sollte er verschlossen sein, das SchloĂ erbrechen, und mit dem gesamten Inhalt, wie er steht und geht, die vierte Schieblade von oben herausziehen â oder, was dasselbe ist, die dritte von unten. In meiner ungeheuren Aufregung habe ich eine Todesangst, Dir eine falsche Bezeichnung zu geben; aber selbst wenn ich mich irren sollte, kannst Du die richtige Schieblade an ihrem Inhalt erkennen: dieser besteht aus mehreren Pulvern, einer Phiole und einem Notizbuch. Diese Schieblade bitte ich Dich mit Dir nach Deiner Wohnung am Cavendish Square zu nehmen, und zwar genau so wie Du sie vorfindest.
Dies ist der erste Teil des Dienstes, den ich von Dir erbitte; jetzt zum zweiten! Wenn Du sofort nach Empfang dieses Briefes Dich aufmachst, solltest Du lange vor Mitternacht wieder zu Hause sein; aber ich will die Frist bis dahin ausdehnen â nicht nur in der BefĂźrchtung, daĂ eines von jenen Hindernissen eintritt, die sich weder verhindern noch voraussehen lassen, sondern auch weil eine Stunde, zu der Deine Diener im Bett liegen, fĂźr das, was dann noch zu tun bleiben wird, vorzuziehen ist. Ich bitte Dich also, punkt zwĂślf Uhr nachts allein in Deinem Konsultationszimmer zu sein, eigenhändig einen Mann, der sich in meinem Namen vorstellen wird, in Dein Haus einzulassen und ihm die Schieblade zu Ăźbergeben, die Du aus meinem Arbeitszimmer mitgebracht haben wirst. Damit wirst Du Deine Aufgabe erfĂźllt und Dir meine vollständigste Dankbarkeit erworben haben. FĂźnf Minuten später wirst Du, wenn Du auf einer Erklärung bestehst, begriffen haben, daĂ diese Anordnungen von einer Wichtigkeit auf Leben und Tod sind, und daĂ die Vernachlässigung einer einzigen von ihnen, so phantastisch sie Dir auch erscheinen mĂźssen, Dein Gewissen vielleicht mit meinem Tod oder mit dem Zusammenbruch meiner Vernunft hätte belasten kĂśnnen.
Obgleich ich die Zuversicht hege, daĂ Du diese Anrufung Deiner Freundschaft nicht als etwas GleichgĂźltiges behandeln willst, stockt mir der Herzschlag und zittert mir die Hand bei dem bloĂen Gedanken an eine solche MĂśglichkeit. Stelle Dir vor, daĂ ich in dieser Stunde, an einem unheimlichen Ort, unter einer schwarzen Verzweiflung leide, die keine Phantasie Ăźbertreiben kann, und daĂ ich trotzdem gewiĂ weiĂ, daĂ meine Not vorĂźber sein wird wie eine Geschichte, wenn sie erzählt ist, sobald Du nur meine Bitte pĂźnktlich erfĂźllen willst. Hilf mir, mein lieber Lanyon, und rette
Deinen Freund
H. J.
Nachschrift: Ich hatte diesen Brief bereits versiegelt, als ein neuer Schrecken meine Seele ergriff. Es ist mĂśglich, daĂ der Postdienst versagt, und daĂ dieser Brief erst morgen frĂźh in Deine Hände kommt. In diesem Fall, lieber Lanyon, erfĂźlle meine Bitte im Laufe des Tages zu einer Stunde, die Dir am besten paĂt, und erwarte meinen Boten ebenfalls um Mitternacht. Vielleicht ist es dann schon zu spät, und wenn diese zweite Nacht ohne die Ankunft des Boten vorĂźbergeht, wirst Du wissen, daĂ Du von Henry Jekyll das Letzte gesehen hast.ÂŤ

Als ich diesen Brief gelesen hatte, war ich Ăźberzeugt, daĂ mein Kollege wahnsinnig sei; aber solange mir dies nicht mit AusschluĂ jeder MĂśglichkeit eines Zweifels bewiesen war, fĂźhlte ich mich verpflichtet, sein Begehren zu erfĂźllen. Je weniger ich von diesem Unsinn verstand, desto weniger befand ich mich auch in der Lage, die Wichtigkeit des Geschreibsels zu beurteilen, und ein Aufruf, der in solchen Worten an mich erging, konnte von mir nicht unberĂźcksichtigt gelassen werden, ohne mich einer schweren Verantwortlichkeit auszusetzen. Ich stand daher von meinem Abendessen auf, setzte mich in einen Hansom und fuhr stracks nach Jekylls Haus. Der Haushofmeister wartete bereits auf meine Ankunft; er hatte mit der gleichen Abendpostbestellung wie ich einen eingeschriebenen Brief mit den entsprechenden Vorschriften erhalten und sofort nach einem Schlosser und nach einem Tischler geschickt. Die Handwerker kamen, während wir noch miteinander sprachen, und wir gingen alle zusammen in das anatomische Amphitheater des alten Dr. Denman, durch welches man â wie Dir zweifelsohne bekannt ist â am bequemsten in Jekylls Arbeitszimmer gelangt. Die TĂźr war sehr stark, das SchloĂ ausgezeichnet; der Tischler erklärte, er wĂźrde groĂe MĂźhe haben und viel Schaden anrichten mĂźssen, wenn die TĂźr mit Gewalt erbrochen werden mĂźĂte, und der Schlosser war beinahe in Verzweiflung. Aber dieser letztere war ein geschickter Arbeiter, und nach zweistĂźndiger Anstrengung war die TĂźr offen. Der Glasschrank mit dem Buchstaben E wurde aufgeschlossen, ich zog die Schieblade heraus, lieĂ sie mit Stroh ausfĂźllen und in ein Leintuch einwickeln und fuhr damit nach Cavendish Square zurĂźck.
Hier machte ich mich daran, den Inhalt der Schieblade zu untersuchen. Die Pulver waren sauber genug verpackt, aber doch nicht so exakt, wie ein Apotheker von Beruf es macht; sie waren also offenbar von Jekyll selber angefertigt; und als ich eins von den Päckchen Ăśffnete, fand ich ein Pulver, das mir ein einfaches, kristallisches Salz von weiĂer Farbe zu sein schien. Die Phiole, auf die ich sodann meine Aufmerksamkeit richtete, mag etwa halbvoll von einer blutroten FlĂźssigkeit gewesen sein, die sehr scharf und stechend roch und mir Phosphor und irgendeinen flĂźchtigen Ăther zu enthalten schien. Welche Bestandteile sie sonst noch enthalten mochte, konnte ich nicht vermuten. Das Buch war ein gewĂśhnliches Schulheft und enthielt wenig mehr als eine Reihe von Datum-Eintragungen. Diese erstreckten sich Ăźber einen Zeitraum von sieben Jahren; aber ich bemerkte, daĂ die Eintragungen vor etwa einem Jahr ganz plĂśtzlich aufgehĂśrt hatten. Hier und da war einem Datum eine kurze Bemerkung beigefĂźgt, gewĂśhnlich nicht mehr als ein einziges Wort: ÂťdoppeltÂŤ. Dies kam vielleicht sechsmal unter mehreren hundert Eintragungen vor. Einmal, und zwar ziemlich zu Anfang der Liste, und mit mehreren Ausrufungszeichen versehen, hieĂ es: Âťvollkommen miĂglĂźckt!!!!ÂŤ
Dies alles stachelte zwar meine Neugier an, aber es sagte mir wenig Bestimmtes. Hier war eine Phiole mit irgendeiner FlĂźssigkeit, ein Papier mit irgendeinem Salz, und die Aufzählung einer Reihe von Experimenten, die â wie nur zu viele von Jekylls Forschungen â zu einem tatsächlichen, brauchbaren Ergebnis nicht gefĂźhrt hatten. Wie konnte die Anwesenheit dieser Gegenstände in meinem Hause die Ehre, die geistige Gesundheit oder das Leben meines phantasievollen Kollegen im geringsten berĂźhren? Wenn sein Bote in mein Haus gehen konnte, warum konnte er nicht auch in ein anderes gehen? Und selbst wenn ich zugeben wollte, daĂ irgendein Hindernis dagegen sprechen kĂśnnte â warum muĂte dieser Herr von mir im geheimen empfangen werden?
Je mehr ich darĂźber nachdachte, desto mehr wuchs meine Ăberzeugung, daĂ ich es mit einem Fall von Gehirnkrankheit zu tun hätte; und obgleich ich meine Dienerschaft zu Bett schickte, lud ich einen alten Revolver, um mich im Notfall einigermaĂen verteidigen zu kĂśnnen.
Kaum hatte es auf den Londoner Kirchtßrmen zwÜlf Uhr geschlagen, da schlug der Klopfer sehr leise an meine Haustßr. Ich ging selber hin und fand einen kleinen Mann, der sich gegen die Säulen des Portals drßckte.
ÂťKommen Sie von Dr. Jekyll?ÂŤ fragte ich ihn.
Er antwortete mir ja, wobei er sich sichtlich Zwang antat; und als ich ihn einzutreten bat, folgte er mir, nicht ohne einen forschenden Blick hinter sich in die Dunkelheit des Square zu werfen. In kurzer Entfernung näherte sich ein Schutzmann mit geÜffneter Gßrtellaterne, und es kam mir vor, wie wenn bei dessen Anblick mein Besucher zusammenfßhre und hastiger in mein Haus hineinschlßpfte.
Ich gestehe, daĂ diese Wahrnehmungen mich unangenehm berĂźhrten; und als ich hinter ihm her in mein hellerleuchtetes Konsultationszimmer ging, hielt ich meine Hand an meiner Waffe. Hier konnte ich ihn endlich deutlich sehen. Er war mir nie zuvor zu Gesicht gekommen â soviel war gewiĂ. Er war klein, wie ich bereits gesagt habe; auĂerdem fiel mir sein abstoĂender Gesichtsausdruck auf, mehr noch eine anscheinend groĂe Muskelstärke, die mit einer sichtlich schwachen Gesundheit verbunden war; am allermeisten aber â obgleich ich dies zuletzt erwähne â die seltsame StĂśrung, die seine Nähe in meinen eigenen Nerven hervorrief. Es war, wie wenn eine Art Starrkrampf mich erfassen wollte, der sich durch ein auffallendes Sinken des Pulsschlages ankĂźndigte. In jenem Augenblick erklärte ich mir diese Erscheinung durch eine Art von ideosynkratischem persĂśnlichem Ekel und wunderte mich nur darĂźber, daĂ die Symptome sich so scharf kundgaben; seitdem aber erhielt ich Grund zu glauben, daĂ die Ursache viel tiefer in der Natur des Menschen lag und von edlerer Art war, als ein bloĂ persĂśnlicher HaĂ.
Der Mann â der gleich beim ersten Anblick in mir ein GefĂźhl erweckt hatte, das ich nur als eine von Ekel begleitete Neugier beschreiben kann â war in einer Weise gekleidet, die einen Menschen gewĂśhnlicher Art lächerlich gemacht haben wĂźrde: seine Kleider waren nämlich, obgleich sie aus sehr gutem und unauffälligem Stoff bestanden, ungeheuer viel zu groĂ fĂźr ihn â der Hosenboden hing tief auf seine Schenkel herunter, und die Beinlinge waren aufgekrempelt, um sie von der BerĂźhrung des Bodens abzuhalten; die Weste ging bis Ăźber die HĂźften herab, und der Hemdkragen saĂ ihm mitten auf den Schultern. MerkwĂźrdig zu berichten: ich konnte Ăźber diesen lächerlichen Anzug durchaus nicht lachen, im Gegenteil â wie schon etwas Unnormales, MiĂgeschaffenes im Wesen selbst dieser mir gegenĂźberstehenden Gestalt lag â etwas Packendes, Ăberraschendes und EmpĂśrendes â so schien dieser unpassende Anzug nur dazu zu passen; und so kam zu meinem Interesse fĂźr die Natur und den Charakter dieses Menschen noch ein neugieriger Wunsch hinzu, etwas Ăźber seine Herkunft, sein Leben und seine Stellung in der Welt zu erfahren.
Diese Beobachtungen, deren Niederschrift hier einen so groĂen Raum eingenommen hat, wurden indessen in wenigen Sekunden von mir gemacht. Schon deshalb, weil mein Besucher vor Aufregung glĂźhte und mit dem Ausruf auf mich losfuhr: ÂťHaben Sie es? Haben Sie es?ÂŤ
Und seine Ungeduld war so lebhaft, daĂ er sogar seine Hand auf meinen Arm legte und mich zu schĂźtteln versuchte.
Ich fĂźhlte bei dieser BerĂźhrung einen eiskalten Schlag in meinem Blut, schob ihn von mir hinweg und sagte:
ÂťBitte, mein Herr, Sie vergessen, daĂ ich noch nicht das VergnĂźgen Ihrer Bekanntschaft habe. Nehmen Sie bitte Platz.ÂŤ
Und ging ihm mit dem Beispiel voran und setzte mich selber auf den Stuhl, auf dem ich bei Konsultationen zu sitzen pflege. Ich versuchte dies mit derselben Miene zu tun, mit der ich meine Patienten empfange, wenn sie mich um Rat fragen. Es mag mir allerdings in dieser vorgerĂźckten Stunde und infolge meiner Zweifel, sowie des Abscheues, den ich gegen meinen Besucher empfand, nicht ganz gelungen sein.
ÂťIch bitte Sie um Verzeihung, Dr. Lanyon,ÂŤ antwortete er mir ganz hĂśflich. ÂťWas Sie da sagen, ist vollkommen berechtigt â meine Ungeduld hat meiner HĂśflichkeit einen Streich gespielt. Ich komme zu Ihnen auf Veranlassung Ihres Kollegen, Dr. Henry Jekyll, in einer Angelegenheit von recht groĂer Bedeutung, und ich war der Meinung âŚ,ÂŤ er stockte und fuhr mit der Hand an seinen Hals, und ich konnte, obwohl er sich zusammennahm, deutlich sehen, daĂ er gegen einen beginnenden hysterischen Anfall zu kämpfen hatte, Âťich war der Meinung, eine Schieblade âŚÂŤ
Die Aufregung meines Besuchers tat mir leid; vielleicht veranlaĂte mich auch meine immer mehr sich steigernde Neugier, ihm zu sagen:
ÂťDa ist sie!ÂŤ
Und damit deutete ich auf die Schieblade, die hinter einem Tisch auf dem FuĂboden lag und wieder in das Tuch eingewickelt war.
Er sprang auf sie zu, blieb vor ihr stehen und preĂte seine Hand auf das Herz; ich konnte seine Zähne wie bei einem Kinnbackenkrampf knirschen hĂśren, und sein Gesicht war so entsetzlich anzusehen, daĂ ich fĂźr sein Leben und seinen Verstand zu fĂźrchten begann.
ÂťFassen Sie sich,ÂŤ sagte ich.
Er wandte sich mit einem fĂźrchterlichen Lächeln zu mir um und riĂ dann, wie wenn ihn die Verzweiflung zu einem EntschluĂ triebe, das Tuch von der Schieblade hinweg. Beim Anblick des Inhalts stieĂ er einen lauten Seufzer so ungeheurer Erleichterung aus, daĂ ich wie versteinert dasaĂ. Und im nächsten Augenblick fragte er mich mit einer Stimme, die er schon wieder so ziemlich in seiner Gewalt hatte:
ÂťHaben Sie ein gradiertes Glas?ÂŤ
Ich stand mit einer ziemlichen Anstrengung von meinem Stuhl auf und gab ihm das GewĂźnschte.
Er dankte mir lächelnd mit einem Nicken, maĂ eine winzige Menge von der roten Tinktur ab und schĂźttete eines von den Pulvern dazu. Die Mischung, die anfangs eine rĂśtliche Farbe gehabt hatte, begann, je mehr die Kristalle schmolzen, dunkler zu werden, hĂśrbar zu brausen und kleine Rauchwolken auszustoĂen. PlĂśtzlich, und zwar gleichzeitig, hĂśrte das Brausen auf, und die Farbe wurde dunkelpurpurrot, um sich dann, aber langsamer, in ein wässeriges GrĂźn zu verwandeln. Mein Besucher, der diese Wandlungen mit scharfem Blick beobachtet hatte, lächelte, setzte das Glas auf den Tisch, drehte sich dann um und sah mich mit forschender Miene an.
ÂťUnd jetztÂŤ, sagte er, ÂťmĂźssen wir uns noch wegen des Ăźbrigen verständigen. Wollen Sie weise sein? Wollen Sie einem guten Rat folgen? Wollen Sie mich dies Glas in meine Hand nehmen und mich aus Ihrem Hause entfernen lassen, ohne daĂ wir weiter Ăźber diese Sache reden? Oder ist Ihre Neugier zu stark? Ăberlegen Sie, bevor Sie antworten â denn es soll so geschehen, wie Sie sich entscheiden. Je nach Ihrer Entscheidung soll alles sein wie zuvor, und Sie werden weder reicher noch klĂźger sein, abgesehen davon, daĂ das GefĂźhl, einem Menschen in Todesnot geholfen zu haben, zu den ReichtĂźmern der Seele gezählt werden kann. Oder, wenn Sie dies vorziehen, es wird ein neuer Bereich des Wissens, es werden neue Wege zu Ruhm und Macht Ihnen erĂśffnet werden â hier, in diesem Zimmer, in diesem Augenblick; und Ihre Augen sollen begnadet werden mit dem Anblick eines Wunders, das den Unglauben Satans erschĂźttern wĂźrde!ÂŤ
Mein Herr, sagte ich mit einer angenommenen Kßhle, die ich in Wirklichkeit keineswegs fßhlte, Sie sprechen in Rätseln und werden sich vielleicht nicht darßber wundern, daà Ihre Worte keinen sehr starken Eindruck von Glaubwßrdigkeit auf mich machen. Aber ich bin mit meinen mir selber rätselhaften Diensten zu weit gegangen, als daà ich aufhÜren mÜchte, bevor ich auch das Ende gesehen habe.
ÂťGut!ÂŤ erwiderte mein Besucher. ÂťLanyon, Sie erinnern sich Ihrer GelĂźbde: was jetzt folgt, ist dem Siegel unserer Amtsverschwiegenheit anvertraut. Und jetzt â Sie, der Sie so lange in den engsten, materiellsten Ansichten befangen waren, Sie, der Sie die Bedeutung der transzendentalen Medizin geleugnet haben, Sie, der Sie Männer, die Ăźber Ihnen stehen, verlacht haben â sehen Sie!ÂŤ
Er setzte das Glas an seine Lippen und trank es mit einem Schluck aus. Dann folgte ein Schrei; er schwankte, taumelte, griff nach dem Tisch und hielt sich an diesem fest, mit verdrehten Augen vor sich hinstarrend, mit offenem Munde keuchend â und als ich auf ihn hinsah, da kam, so schien es mir, eine Veränderung: er schien anzuschwellen, sein Antlitz wurde plĂśtzlich schwarz, seine GesichtszĂźge schienen zu schmelzen und sich zu ändern â und im nächsten Augenblick war ich auf meine FĂźĂe gesprungen und gegen die Wand zurĂźckgetaumelt und erhob meinen Arm, um mich gegen das Ungeheuerliche zu wehren. Meine Seele ganz von Entsetzen erfĂźllt, schrie ich: ÂťO Gott!ÂŤ und immer wieder und wieder: ÂťO Gott!ÂŤ
Denn dort vor meinen Augen, bleich und zitternd und halb ohnmächtig und mit den Händen vor sich hintastend, wie ein Mensch, der von dem Tode auferstanden ist â stand Henry Jekyll!
Was er mir in der nächsten Stunde erzählte, kann ich mich nicht entschlieĂen zu Papier zu bringen. Ich sah, was ich sah â ich hĂśrte, was ich hĂśrte â und meine Seele wurde krank davon. Und doch: jetzt, da der Anblick aus meinen Augen entschwunden ist, frage ich mich selber, ob ich es glaube â und kann darauf nicht antworten.
Mein Leben ist bis in seine Wurzeln erschĂźttert; kein Schlaf kommt mehr zu mir; tĂśdlichste Angst sitzt bei mir in jeder Stunde des Tages und der Nacht; ich fĂźhle, daĂ meine Tage gezählt sind und daĂ ich sterben muĂ; und doch werde ich ungläubig sterben.
An die moralische Schändlichkeit, die jener Mensch mir, wenn auch unter Tränen der Reue, enthĂźllte, kann ich selbst in der Erinnerung nicht denken, ohne vor Entsetzen aufzufahren. Ich will nur eins sagen, Utterson, und dies â wenn Du Dich entschlieĂen kannst, es zu glauben â wird mehr als genug sein: Das GeschĂśpf, das in jener Nacht in mein Haus kroch, war nach Jekylls eigenem Geständnis bekannt unter dem Namen Hyde und wurde in jedem Winkel des Landes verfolgt als der MĂśrder Carews.
Hastie Lanyon.
Kapitel 10: Henry Jekylls vollständiger Bericht ßber den Fall
Ich wurde geboren im Jahre 18.. als Erbe eines groĂen VermĂśgens; ich besaĂ auĂerdem vortreffliche Anlagen, war von Natur fleiĂig, begierig nach der Achtung der Weisen und Guten unter meinen Mitmenschen, und so war mir, hätte man annehmen sollen, jede Gewähr einer ehrenvollen, ausgezeichneten Laufbahn gegeben. In der Tat war der schlimmste meiner Fehler nur eine gewisse ungeduldige Lebenslust, wie sie manchen Menschen glĂźcklich gemacht hat, die ich aber schwer mit meinem gebieterischen Wunsch zu vereinbaren fand, meinen Kopf hoch zu tragen und vor der Welt als ein ungewĂśhnlich ernster Mann zu erscheinen. So kam es, daĂ ich meine VergnĂźgungen verheimlichte; und als ich in die Jahre des Nachdenkens kam, um mich zu blicken begann und mir Ăźber meine Fortschritte und meine Stellung in der Welt Rechenschaft ablegte, da fand ich, daĂ ich bereits tief in ein Doppelleben verstrickt war. Mancher Mensch wĂźrde mit solchen Ausschweifungen, wie ich sie mir habe zuschulden kommen lassen, sogar sich gebrĂźstet haben; aber in Anbetracht der hohen Ziele, die ich mir gesteckt hatte, verbarg ich sie mit einem fast krankhaften SchamgefĂźhl.
So war es wohl mehr die hochfliegende Art meines Strebens, als eine besondere Niedrigkeit meiner Fehler, die mich zu dem machten, was ich war, und durch eine tiefere Kluft, als bei der Mehrheit der Menschen, in mir die Bereiche des Guten und des BĂśsen schied, die die zwiefache Natur des Menschen teilen und verbinden. In dieser meiner Lage wurde ich dazu getrieben, tief und anhaltend Ăźber jenes harte Gesetz des Lebens nachzudenken, das eine der Wurzeln der Religion bildet und eine der reichlichst flieĂenden Quellen von Angst und Pein ist. Ich war eine ausgesprochene Doppelnatur, aber durchaus kein Heuchler; beide Seiten meines Wesens waren vollkommen ernst gemeint und aufrichtig: ich war genau so ich selber, wenn ich alle ZurĂźckhaltung fahren lieĂ und mich in SĂźnden wälzte, wie wenn ich vor den Augen der Welt an der FĂśrderung des Wissens arbeitete, oder Sorgen und Leiden milderte. Und es fĂźgte sich so, daĂ die Richtung meiner wissenschaftlichen Studien, die ganz und gar auf das Mystische und Transzendentale hinarbeiteten, rĂźckwirkte und mein BewuĂtsein des ewigen Kampfes innerhalb meiner kĂśrperlichen Gestaltung in ein helles Licht setzte. Mit jedem Tage und von beiden Seiten meiner Geistigkeit, der moralischen und der verstandesmäĂigen, näherte ich mich unentwegt jener Wahrheit, deren leider nur unvollständige Entdeckung mich zu einem so furchtbaren Zusammenbruch verurteilte: der Wahrheit, daĂ der Mensch nicht ein Mensch ist, sondern in Wirklichkeit aus zwei Menschen besteht. Ich sage: zwei, weil der Stand meines eigenen Wissens nicht hierĂźber hinausreicht. Andere Forscher werden mir folgen, andere werden auf demselben Wege weiterkommen als ich, und ich wage zu vermuten, daĂ man schlieĂlich wissen wird: der einzelne Mensch ist weiter nichts als eine Gemeinde von mannigfaltigen, ungleichartigen und unabhängigen BĂźrgern.
Ich selber, so lag es in der Natur meines Lebens, machte unwandelbare Fortschritte in einer Richtung und nur in dieser einen. Auf der moralischen Seite und an meiner eigenen Person lernte ich die grĂźndliche und ureigene Dualität des Menschen erkennen. Ich sah, daĂ, wenn man mit Recht von mir sagen konnte, ich sei eine von den beiden Naturen, die auf dem Felde meines BewuĂtseins sich bekämpften, dies nur deshalb war, weil beide Naturen die Wurzel meines Lebens bildeten. Und schon frĂźh, lange bevor der Verlauf meiner wissenschaftlichen Entdeckungen mich die nackte Wirklichkeit eines solchen Wunders ahnen zu lassen begann, hatte ich oft mit VergnĂźgen bei dem Gedanken einer Scheidung dieser Elemente verweilt, wie bei einem lieben Traum im Wachen. Wenn nur, so sagte ich mir selber, jede von diesen Naturen in getrennten kĂśrperlichen Einheiten untergebracht werden kĂśnnte, wĂźrde das Leben von allem Unerträglichen erleichtert sein: Der Ungerechte kĂśnnte seiner Wege gehen, befreit von Bestrebungen der Gewissensbisse, seines ehrlicheren Zwillingsbruders â und der Gerechte kĂśnnte standhaft und sicher seinen Pfad zum Himmel emporgehen, das Gute tun, woran er seine Freude fände, und wĂźrde nicht länger von Schande und Reue durch das auĂerhalb seines Ich liegende BĂśse bedroht sein. Es war der Fluch der Menschheit, daĂ diese nicht zueinander passenden Bestandteile auf solche Weise zusammengeschnĂźrt waren â daĂ in dem von Schmerzen gepeinigten Mutterleib des BewuĂtseins diese Gegenpol-Zwillinge unaufhĂśrlich miteinander kämpfen muĂten. Wie sollten sie denn nun voneinander getrennt werden?
So weit war ich in meinen Gedankengängen gekommen, als vom Experimentiertisch, wie ich bereits sagte, ein Seitenlicht auf diesen Gegenstand zu strahlen begann. Ich begann tiefer in diese Frage einzudringen, als alle Forscher, die bis jetzt darĂźber etwas verĂśffentlicht haben, und bemerkte die zitternde UnkĂśrperlichkeit, den nebelgleichen Ăbergangszustand dieses scheinbar so gediegenen KĂśrpers, in welchem eingehĂźllt wir durch die Welt gehen. Ich fand, daĂ gewisse Triebkräfte die Macht haben, dieses fleischliche Kleid zu erschĂźttern und abzustreifen, wie etwa ein WindstoĂ die Leinwandbahnen eines Zeltes hin und her wirft.
Aus zwei guten GrĂźnden will ich nicht tiefer auf diese wissenschaftliche Seite meiner Beichte eingehen:
Erstens, weil ich habe erfahren mĂźssen, daĂ der Fluch und die BĂźrde des Lebens dem Menschen fĂźr ewig auf die Schultern gelegt ist, und daĂ der Versuch, diese abzuschĂźtteln, vergeblich ist, da sie sich immer wieder auf uns legt, nur unbequemer und drĂźckender.
Zweitens, weil aus meiner Erzählung leider nur zu deutlich hervorgehen wird, daà meine Entdeckungen unvollständig waren.
Genug also: Ich erkannte nicht nur, daĂ mein natĂźrlicher Leib weiter nichts als ein Dunstkreis und eine Ausstrahlung einiger von den Kräften ist, aus denen mein Geist zusammengesetzt ist, sondern es gelang mir auch, einen Trank zu mischen, durch den diese Kräfte, die bisher die Oberherrschaft gehabt hatten, entthront werden konnten, so daĂ an ihre Stelle eine zweite Form und äuĂere Gestalt trat, die nicht weniger meine eigene Natur waren, denn sie waren der Ausdruck und trugen den Stempel niedrigerer Elemente in meiner Seele.
Ich zĂśgerte lange, bis ich diese Theorie auf die Probe eines praktischen Versuches stellte. Ich wuĂte wohl, daĂ ich mein Leben wagte; denn ein Trank, der die eigentliche Zitadelle meiner Wesenheit so machtvoll beherrschte und erschĂźtterte, konnte durch ein allergeringstes Zuviel eines seiner Bestandteile oder durch das geringste Versehen im Augenblick der Anwendung das unkĂśrperliche Sakramentshaus, dessen Veränderung ich von ihm erwartete, gänzlich zerstĂśren. Aber die Versuchung, eine so eigenartige und tiefwirkende Entdeckung zu machen, war schlieĂlich stärker als die Einreden meiner Furcht. Ich hatte meine Tinktur längst zusammengestellt; ich kaufte von einer GroĂhandlung fĂźr Apothekerwaren eine bedeutende Menge eines gewissen Salzes, das, wie ich von meinen Versuchen wuĂte, der letzte erforderliche Bestandteil war. Und in später Stunde einer verfluchten Nacht mischte ich die Elemente, sah sie im Glase sprudeln und rauchen, und als das Sprudeln aufgehĂśrt hatte, erblĂźhte ich von einem starken Mut, und ich trank.
Es folgten entsetzlich folternde Schmerzen: ein Schroten in den Knochen, eine tĂśdliche Ăbelkeit und ein Grausen des Geistes, wie es in der Stunde der Geburt oder des Todes nicht ärger sein kann. Aber schnell lieĂen die Schmerzen nach, und ich kam wieder zu mir selber, wie wenn ich von einer schweren Krankheit genesen wäre. Es war etwas Seltsames in meinem Empfinden, etwas unbeschreiblich Neues und eben wegen seiner Neuheit unglaublich SĂźĂes. Ich fĂźhlte mich kĂśrperlich jĂźnger, leichter, glĂźcklicher; in meinem Inneren war ich mir einer stĂźrmischen Sorglosigkeit bewuĂt; eine Flucht ungeordneter wollĂźstiger Bilder rann wie ein MĂźhlbach durch meine Phantasie; ich fĂźhlte mich von den Banden der Pflicht befreit; ich empfand eine unbekannte, aber nicht unschuldige Freiheit der Seele. Mit dem ersten Atemzug, den ich in diesem neuen Leben tat, wuĂte ich, daĂ ich sĂźndhafter, zehnfach sĂźndhafter sei: ein Sklave des UrbĂśsen in mir; und dieser Gedanke erfrischte und entzĂźckte mich in diesem Augenblick wie Wein. Frohlockend Ăźber die Frische dieser Empfindungen, streckte ich meine Hände aus; und wie ich dies tat, bemerkte ich plĂśtzlich, daĂ ich an KĂśrpergrĂśĂe verloren hatte.
In meinem Zimmer war damals kein Spiegel; der Spiegel, der in diesem Augenblick, da ich schreibe, neben mir steht, wurde erst später aufgestellt, und zwar gerade zu dem Zwecke dieser Verwandlung. Die Nacht war fast schon Morgen geworden â der Morgen, schwarz und finster noch, war fast reif schon die Geburt des Tages â die Insassen meines Hauses lagen zu dieser Stunde im festesten Schlaf; und in meiner Ăźberschwellenden Hoffnung und Siegesfreudigkeit beschloĂ ich das Wagnis, in meiner neuen Gestalt in mein Schlafzimmer zu gehen. Ich ging Ăźber den Hof, wo die Sternbilder, ich hätte sagen mĂśgen, um meine Gedanken auszusprechen: mit Verwunderung auf mich herniederblickten, das erste GeschĂśpf dieser Art, das ihre niemals schlafende Wachsamkeit ihnen gezeigt hatte; ich schlich durch die Korridore, ein Fremdling in meinem eigenen Haus; und als ich in mein Zimmer trat, sah ich zum erstenmal die Gestalt von Edward Hyde.
Was ich jetzt sage, ist nur Theorie; ich sage nicht etwas, das ich weiĂ, sondern was nach meiner Annahme hĂśchst wahrscheinlich ist. Der bĂśse Teil meiner Natur, den ich jetzt verkĂśrpert hatte, war weniger kräftig und weniger entwickelt wie der gute Teil, den ich soeben abgelegt hatte. Im Laufe meines Lebens, von dem doch neun Zehntel ein Leben voll Arbeit, Tugend und Selbstbeherrschung gewesen waren, war das BĂśse viel weniger geĂźbt, aber auch viel weniger ermĂźdet worden. Und daher kam es, wie ich glaube, daĂ Edward Hyde so viel kleiner, leichter und jĂźnger als Henry Jekyll war. Ebenso wie aus dem Antlitz des Einen das Gute strahlte, stand auf dem Antlitz des Anderen klar und deutlich das BĂśse geschrieben. AuĂerdem hatte das BĂśse â das ich immer noch fĂźr den sterblichen Teil des Menschen halten muĂ â diesem KĂśrper einen Stempel von MiĂgestalt und Verfall aufgedrĂźckt. Und doch, als ich dieses häĂliche GĂśtzenbild im Spiegel sah, empfand ich keinen Widerwillen, sondern eher ein GefĂźhl freudiger BegrĂźĂung. Auch diese Gestalt war ich. Sie erschien mir natĂźrlich und menschlich. In meinen Augen war sie ein lebendigeres Abbild des Geistes; sie schien ausdrucksvoller und eigenartiger zu sein, als die unvollkommene, zwiespältige Menschengestalt, die ich bis dahin gewĂśhnt gewesen war, die meinige zu nennen. Und insofern hatte ich zweifellos recht. Ich habe bemerkt, daĂ niemand, wenn ich die Gestalt von Edward Hyde trug, anfangs sich mir nähern konnte ohne eine sichtbare bĂśse Ahnung des Fleisches. Dies geschah nach meiner Auffassung deshalb, weil alle menschlichen Wesen, wie wir sie treffen, aus Gutem und BĂśsem gemischt sind, und Edward Hyde allein in den Reihen der Menschheit war Unvermischt-BĂśses.
Ich verweilte nur einen Augenblick vor dem Spiegel: das zweite und entscheidende Experiment muĂte noch unternommen werden; es war noch festzustellen, ob ich meine Identität unwiderruflich verloren hätte und vor Tagesanbruch auĂer dem Hause fliehen mĂźĂte, das nicht länger das meinige wäre. Ich eilte in mein Arbeitszimmer zurĂźck, mischte wieder den Trank und schlĂźrfte ihn ein, erlitt wieder die Schmerzen der AuflĂśsung und kam wieder zu mir selber mit dem Charakter, der Gestalt und dem Antlitz Henry Jekylls.
In jener Nacht war ich an den verhängnisvollen Kreuzweg gekommen. Wäre ich an meine Entdeckung in einem edleren Geist herangetreten, hätte ich den Versuch unter der Herrschaft groĂherziger oder frommer Bestrebungen gewagt, so hätte alles anders kommen mĂźssen, und ich wäre aus diesen Wehen von Tod und Geburt nicht als ein Teufel, sondern als ein Engel hervorgegangen.
Die Wirkung des Tranks war wahllos: er selber war weder teuflisch noch gĂśttlich; er sprengte nur die TĂźren des Gefängnisses meiner Gesinnung; und wie die Gefangenen von Philippi lief ins Freie, was drinnen war. In jenem Augenblick schlummerte meine Tugend; mein BĂśses, das vom Ehrgeiz wachgehalten wurde, war munter und ergriff schnell die Gelegenheit; und das Ding, das Gestalt annahm, war Edward Hyde. So war denn, obgleich ich jetzt sowohl zwei Charaktere, wie auch zwei äuĂere Gestalten hatte, der eine Charakter gänzlich bĂśse, und der andere war immer noch der des alten Henry Jekyll, jene ungleiche Mischung, an deren Ănderung und Besserung ich schon längst verzweifelt hatte. Die Bewegung war also gänzlich in der Richtung zum Schlimmeren erfolgt.
Zu jener Zeit hatte ich meine Abneigung gegen die Trockenheit eines Lebens gelehrter Forschung noch nicht Ăźberwunden. Noch immer war ich zu Zeiten lustig aufgelegt; und da meine VergnĂźgungen â um mich milde auszudrĂźcken â nicht wĂźrdevoll waren, da ferner ich selber nicht nur wohlbekannt und hochgeachtet war, sondern auch allmählich ein ältlicher Mann wurde, so wurde mir dieser Zwiespalt in meinem Leben von Tag zu Tag lästiger. Hier fĂźhrte nun meine neue Kraft mich in Versuchung, bis ich in ihre Knechtschaft geriet. Ich brauchte nur den Trank zu schlĂźrfen, um sofort den Leib des bekannten Professors abzuwerfen und wie in einen dicken Mantel in den Leib Edward Hydes hineinzuschlĂźpfen. Ich lächelte Ăźber diesen Einfall; er erschien mir in jenem Augenblick humoristisch, und ich traf meine Vorbereitungen mit der allergrĂśĂten Sorgfalt. Ich mietete ein Haus in Soho und richtete es ein; jenes Haus, das die Polizei durchsuchte, als sie Hyde auf der Spur war. Ich stellte als Haushälterin eine Person an, von der ich bestimmt wuĂte, daĂ sie verschwiegen war und keine Gewissensbedenken hatte. Gleichzeitig sagte ich meiner Dienerschaft, daĂ ein gewisser Herr Hyde â den ich ihnen genau beschrieb â in meinem Hause am Square nach seinem Belieben aus und ein gehen, schalten und walten solle; und um MiĂverständnisse auszuschlieĂen, machte ich sogar in meiner zweiten Gestalt einen Besuch in meinem eigenen Hause, so daĂ meine Leute mich kannten. Sodann setzte ich jenen Letzten Willen auf, gegen den Du so viel einzuwenden hattest. Ich konnte also, wenn mir in der Gestalt des Dr. Jekyll etwas zustieĂ, ohne VermĂśgensverlust in die Gestalt Edward Hydes eintreten. Nachdem ich auf diese Weise nach allen Seiten hin, wie ich annahm, mich gesichert hatte, begann ich mir die seltsame Gefahrlosigkeit meiner Lage zunutze zu machen.
Es ist doch frĂźher schon vorgekommen, daĂ Menschen Bravos dangen, um ihre Verbrechen auszufĂźhren, während ihre eigene Person und guter Ruf in Deckung blieben. Ich war der erste Mensch, der dies tat, um seinen LĂźsten nachzugehen. Ich war der erste, der dank diesem Mittel vor der Welt als ein liebenswĂźrdiger, achtungswerter Mann sich darstellen konnte und im Nu, wie ein Schulknabe, diese erborgte Achtbarkeit abzustreifen und kĂśpflings in das Meer der Freiheit zu springen imstande war. Aber fĂźr mich, in meinem undurchdringlichen Mantel, war die Sicherheit vollständig. Bedenke â ich war ja nicht einmal vorhanden â ich brauchte nur durch meine LaboratoriumstĂźr zu entschlĂźpfen, zwei Sekunden Zeit zu haben, um den Trank zu mischen und zu verschlucken, dessen Zutaten stets bereit standen â und Edward Hyde, was auch immer er getan haben mochte, verschwand, wie ein Hauch des Atems von einem Spiegel verschwindet, und an seiner Stelle war es ruhig in seinem Heim bei der mitternächtlichen Studierlampe ein Mann, der jeden Argwohn verlachen konnte â der sogenannte Henry Jekyll. Die LĂźste, die ich in gieriger Eile in meiner Verkleidung aufsuchte, waren, wie schon gesagt, unwĂźrdig; einen härteren Ausdruck brauche ich nicht anzuwenden. Aber Edward Hyde machte aus ihnen bald ScheuĂlichkeiten. Wenn ich von meinen AusflĂźgen heimkam, ergriff mich oft eine Art von Staunen Ăźber die Verderbtheit meines zweiten Ich. Dieser Mensch, den ich aus meiner eigenen Seele ins Leben rief und ausziehen lieĂ, um auf eigene Hand nach seiner Laune zu handeln, war seiner Natur nach ein boshaftes Wesen und ein Schurke; jede Handlung, jeder Gedanke dieses Menschen war Selbstsucht; mit tierischer Gier schlĂźrfte er Wollust aus jeder Art von Qualen, die er anderen bereitete; er war erbarmungslos wie ein Steinbild. Henry Jekyll stand manchmal entsetzt vor den Handlungen Edward Hydes; aber seine Lage hatte mit gewĂśhnlichen Gesetzen nichts zu tun â und mit diesem verfänglichen Gedanken erleichterte er sein Gewissen. SchlieĂlich war Hyde der Schuldige, und nur Hyde allein. Jekyll war nicht bĂśser, als er immer gewesen war; wenn er wieder seine Gestalt annahm, waren seine guten Eigenschaften allem Anschein nach unverändert; er beeilte sich sogar, wo dies mĂśglich war, das von Hyde angerichtete Unheil wieder auszugleichen. Und so schlummerte sein Gewissen. Ich beabsichtige nicht auf die Einzelheiten der Ruchlosigkeiten einzugehen, die ich auf diese Weise geschehen lieĂ â denn selbst jetzt kann ich kaum zugeben, daĂ ich sie beging. Ich will nur Ăźber die Warnungen berichten, die ich empfing, und will schildern, wie allmählich, schrittweise, meine Bestrafung herannahte. Ich hatte ein Erlebnis, das ich hier einfach nur erwähnen will, da es keine weiteren Folgen nach sich zog. Eine Grausamkeit, die ich an einem Kinde beging, erweckte gegen mich den Zorn eines zufällig VorĂźbergehenden, den ich neulich in der Person deines Verwandten wiedererkannte. Der Arzt und die AngehĂśrigen des Kindes schlossen sich ihm an; einige Augenblicke fĂźrchtete ich fĂźr mein Leben und schlieĂlich muĂte, um ihre nur zu berechtigte EmpĂśrung zu beschwichtigen, Edward Hyde sie an meine TĂźr fĂźhren und sie mit einem Scheck bezahlen, der von Henry Jekyll ausgestellt war. Aber eine solche Gefahr lieĂ sich fĂźr die Zukunft leicht ausschlieĂen, indem ich bei einer anderen Bank ein Guthaben auf den Namen Edward Hyde einrichtete; und als ich durch eine Veränderung meiner eigenen Handschrift meinen Doppelgänger mit einer ihm eigentĂźmlichen Unterschrift ausgestellt hatte, glaubte ich, mich auĂer Reichweite des Schicksals zu befinden.
Etwa zwei Monate vor der Ermordung Sir Danvers Carews war ich wieder einmal auf Abenteuer ausgegangen, in später Stunde heimgekommen und erwachte am nächsten Morgen in meinem Bett mit etwas sonderbaren Empfindungen. Vergeblich blickte ich um mich; vergeblich sah ich die vornehme Einrichtung meines geräumigen Schlafzimmers am Square; vergeblich erkannte ich das Muster meiner Bettgardinen und die Form der Mahagonibettstelle â trotz alledem wollte das GefĂźhl nicht weichen, daĂ ich nicht dort wäre, wo ich in Wirklichkeit mich befände, daĂ ich nicht in meinem eigenen Schlafzimmer erwacht wäre, sondern in der kleinen Kammer in Soho, wo ich in der leiblichen Gestalt Edward Hydes zu schlafen pflegte. Ich lächelte Ăźber mich selber und begann nach meiner psychologischen Art gemächlich Ăźber die einzelnen Bestandteile dieser Einbildung nachzudenken, und während ich dies noch tat, versank ich wieder in einen behaglichen Morgenschlummer, in welchem ich weiter träumte und nachdachte. Als ich wieder etwas heller wach wurde, fiel mein Blick auf meine Hand. Nur war die Hand Henry Jekylls â wie Du oft bemerkt hast â an Form und GrĂśĂe die richtige Hand eines Arztes: groĂ, fest, weiĂ und hĂźbsch geformt. Aber die Hand, die ich jetzt deutlich genug in dem gelben Licht eines Morgens der Londoner City sah, wie sie halbgeschlossen lag, war dĂźrr, knochig, dick geädert, von schwärzlich blasser Farbe und dicht mit schwarzen Haaren bewachsen. Es war die Hand Edward Hydes.

Ich muà fast eine halbe Minute lang diese Hand angestarrt haben, ohne ein anderes Gefßhl als eine stumpfsinnige Verwunderung. Dann bekam ich einen Schreck wie bei einem plÜtzlichen Lärm von Pauken und Trompeten, sprang aus dem Bett und rannte vor meinen Spiegel. Bei dem Anblick, der meine Augen traf, wurde mein Blut kalt wie Eis. Ja, ich war als Henry Jekyll zu Bett gegangen und als Edward Hyde aufgewacht. Aber wie war dies zu erklären? So fragte ich mich, und dann mit einem neuen Anfall von Entsetzen, wie sollte ich mir helfen?
Es war schon ziemlich spät am Morgen; die Dienerschaft war aufgestanden; alle Bestandteile meines Tranks waren in meinem Arbeitszimmer â es war ein weiter Weg von der Stelle, auf der ich in diesem Augenblick wie vom Blitz getroffen stand, bis zu meinem Arbeitszimmer. Zwei Treppen hinunter, durch den hinteren Korridor, Ăźber den offenen Hof und durch das anatomische Theater! Allerdings war es mir wohl mĂśglich, mein Gesicht zu bedecken; aber was nĂźtzte mir dies, da ich ja nicht imstande war, die Veränderung meiner Gestalt zu verbergen? Aber da Ăźberkam mich eine wonnige Erleichterung. Mir fiel ein, daĂ die Bedienten ja bereits an das Kommen und Gehen meines zweiten Ich gewĂśhnt waren! Schnell hatte ich mir, so gut es ging, meine eigenen Kleider angezogen; schnell war ich durch das Haus gegangen, wo Bradshaw mit einem erstaunten Blick zurĂźckfuhr, als er Herrn Hyde zu solcher Stunde und in einem so merkwĂźrdigen Aufzug sah; und zehn Minuten später war Dr. Jekyll wieder in seine eigene Gestalt zurĂźckgekehrt und hatte sich mit dĂźsterer Stirn hingesetzt, um zum Schein etwas zu frĂźhstĂźcken.
Mein Appetit war in der Tat nur gering. Dieses unerklärliche Ereignis, eine Umkehrung des zuletzt von mir vorgenommenen Experimentes, schien mir, wie jener Finger bei dem Gastmahl in Babylon, die Worte meines Urteils an die Wand zu schreiben, und ich begann ernster denn je Ăźber die MĂśglichkeiten und das kĂźnftige Ende meines Doppellebens nachzudenken. Dieser Teil meines Ich, dem ich eine Gestalt zu geben die Macht besaĂ, hatte in der letzten Zeit viel Bewegung und Nahrung empfangen; es war mir schon seit kurzem vorgekommen, wie wenn der KĂśrper Edward Hydes grĂśĂer geworden wäre, wie wenn ich mir in dieser Gestalt eines lebhafteren Umlaufs meines Blutes bewuĂt gewesen wäre; und ich begann eine Gefahr zu wittern, daĂ bei längerer Fortdauer dieses Zustandes vielleicht das Gleichgewicht meiner Natur fĂźr immer umgeworfen werden kĂśnnte, so daĂ ich nicht mehr die Macht freiwilliger Veränderung besäĂe und der Charakter Edward Hydes unwiderruflich der meinige wĂźrde.
Die Kraft meines Tranks hatte sich nicht immer gleichmäĂig bewährt. Einmal â ziemlich zu Anfang meiner neuen Laufbahn â war mir der Versuch gänzlich miĂlungen; seitdem war ich bei mehr als einer Gelegenheit genĂśtigt gewesen, den Trank zweimal zu mir zu nehmen; in einem Falle hatte ich ihn mit ungeheurer Lebensgefahr verdreifachen mĂźssen; und diese, wenn auch selten eintretenden, Unsicherheiten hatten bisher den einzigen Schatten auf meine Zufriedenheit geworfen. Jetzt aber, im Lichte dieses Morgenerlebnisses muĂte ich bemerken, daĂ nicht mehr wie im Anfang die Schwierigkeit darin bestand, den KĂśrper Jekylls abzustreifen, sondern daĂ in der letzten Zeit ganz allmählich, aber deutlich die Schwierigkeit auf dem umgekehrten Wege sich gezeigt hatte. Mir schien daher aus allem dies hervorzugehen: ich verlor langsam die Herrschaft Ăźber mein ursprĂźngliches und besseres Ich und verkĂśrperte mich langsam in mein zweites und schlechteres Ich.
Ich fĂźhlte jetzt, daĂ ich zwischen diesen beiden zu wählen hatte. Meine beiden Naturen hatten das Gedächtnis gemeinsam, aber alle anderen Fähigkeiten waren sehr ungleich unter ihnen verteilt. Jekyll, der ein zusammengesetztes Wesen war, plante und teilte die Freuden und Abenteuer Hydes â bald in einer hĂśchst unbehaglichen Angst, bald mit einem gierigen Behagen; aber Hyde war vĂśllig gleichgĂźltig Jekyll gegenĂźber oder erinnerte sich seiner nur, wie ein Räuber in den Bergen sich der HĂśhle erinnert, in der er sich vor Verfolgern verbirgt. Jekyll empfand fĂźr Hyde eine mehr als väterliche Liebe; Hyde fĂźr Jekyll die GleichgĂźltigkeit eines Sohnes.
Wählte ich Jekyll, so war ich tot fĂźr die Begierden, denen ich lange Zeit nur im geheimen nachgegeben, in denen ich aber in der letzten Zeit geschwelgt hatte. Wählte ich Hyde, so war ich tot fĂźr tausend Interessen und Bestrebungen und wurde mit einem Schlage und fĂźr ewig ein verachteter, freudloser Mensch. Der Handel konnte ungleich erscheinen; aber es fiel noch eine andere Betrachtung in die Wagschale: Während Jekyll die Flammen der Entsagung schmerzlich verspĂźren muĂte, wĂźrde Hyde sich alles dessen, was er verloren hatte, nicht einmal bewuĂt sein.
So seltsam meine eigenen Umstände waren â dieser Widerstreit ist so alt und alltäglich, seitdem es Menschen gibt; ziemlich dieselben Verlockungen und BefĂźrchtungen wĂźrfeln miteinander in jedem zitternden SĂźnder, der in Versuchung gerät. Und es ging mir, wie es der ungeheuren Mehrheit meiner Mitmenschen ergeht: ich erwählte das bessere Teil, und es zeigte sich, daĂ mir die Kraft fehlte, dabei zu verharren.
Ja, ich zog den ältlichen, innerlich unzufriedenen Doktor vor, der von Freunden umgeben war und sich ehrenhaften Hoffnungen hingab, und verzichtete entschlossen auf die Freiheit, die verhältnismäĂige Jugend, den leichten Schritt, den stĂźrmischen Pulsschlag und die geheimen Wonnen, die ich in der Verkleidung als Hyde genossen hatte. Ich traf diese Wahl vielleicht mit einem unbewuĂten Vorbehalt; denn ich gab weder das Haus in Soho auf, noch vernichtete ich die Kleider Edward Hydes, die stets in meinem Arbeitszimmer bereit lagen. Zwei Monate blieb ich jedoch meinem EntschluĂ treu; zwei Monate lang fĂźhrte ich ein so streng ehrbares Leben, wie ich es frĂźher niemals versucht hatte, und erfreute mich dafĂźr des Lohnes eines zufriedenen Gewissens. Aber die Zeit begann schlieĂlich mich den ausgestandenen Schreck vergessen zu lassen. Die LobsprĂźche meines Gewissens wurden etwas selbstverständlich; ich wurde von drängenden SehnsĂźchten gequält, wie wenn in mir Hyde nach Freiheit ränge; und endlich, in einer Stunde moralischer Schwachheit, braute und trank ich wieder das Verwandlungsmittel.
Wenn ein Trunkenbold bei sich selber Ăźber sein Laster nachdenkt, so denkt er wahrscheinlich nicht einmal unter fĂźnfhundert Malen dabei an die Gefahren, die ihm aus seiner tierischen GleichgĂźltigkeit den kĂśrperlichen Folgen gegenĂźber entstehen kĂśnnen; so hatte auch ich, solange ich auch Ăźber meine Lage nachgedacht hatte, dabei nicht genĂźgend in Betracht gezogen, daĂ die HauptcharakterzĂźge Edward Hydes seine vollständige moralische GleichgĂźltigkeit und seine sinnlose Bereitschaft zum BĂśsen waren. Durch diese wurde ich bestraft. Mein Teufel war lange im Käfig gewesen und sprang nun mit GebrĂźll hervor. Schon als ich den Trank schlĂźrfte, fĂźhlte ich eine zĂźgellosere, wĂźtendere Lust, BĂśses zu tun. Dies muĂ wohl in meiner Seele jenen Sturm von Ungeduld aufgerĂźhrt haben, mit welcher ich die hĂśflichen Worte meines unglĂźcklichen Opfers anhĂśrte. Jedenfalls erkläre ich hiermit vor Gott: kein geistig gesunder Mensch hätte dieses Verbrechen aus so jämmerlichem AnlaĂ begehen kĂśnnen â ich hatte in jenem Augenblick nicht mehr Vernunft als ein krankes Kind, das sein Spielzeug zerbricht. Aber ich hatte freiwillig alle jene ausgleichenden Instinkte von mir abgestreift, dank denen selbst der bĂśseste von uns Menschen immer noch mit einer gewissen Festigkeit durch seine Versuchungen hindurchgeht; in meinem Fall aber bedeutete eine Versuchung, war sie auch noch so gering, unvermeidliches Straucheln.
Im Nu erwachte in mir der Geist der HĂślle und raste. In einem Ăberschwang von EntzĂźcken zerschmetterte ich den wehrlosen Leib. KĂśstliche Wonne bereitete mir jeder Schlag; und erst als ich mĂźde wurde, fuhr mir plĂśtzlich, auf dem HĂśhepunkt meiner Raserei, ein kalter Schreckensschauder durch das Herz. Ein Nebel zerteilte sich: ich sah, daĂ mein Leben verwirkt war, und floh von dem Schauplatz meiner Ausschreitung, frohlockend und zugleich zitternd â meine Lust am BĂśsen war befriedigt und noch gesteigert, meine Liebe zum Leben aufs äuĂerste angespannt. Ich rannte nach dem Haus in Soho und vernichtete â um meine Sicherheit doppelt sicher zu machen â alle Papiere, die ich dort hatte. Dann lief ich durch die hellbeleuchteten StraĂen in derselben zwiespältigen Aufregung meiner Seele, meines Verbrechens mich rĂźhmend, leichtfertig Pläne fĂźr die Zukunft planend, und trotz alledem fliehend und fortwährend nach rĂźckwärts auf die Schritte des Rächers lauschend. Hyde hatte ein Lied auf seinen Lippen, als er den Trank mischte, und er stĂźrzte ihn auf das Wohl des Ermordeten hinunter! Die Schmerzen der Verwandlung hatten noch nicht aufgehĂśrt ihn zu zerreiĂen, als Henry Jekyll unter strĂśmenden Tränen der Dankbarkeit und der Reue auf seine Knie fiel und seine gefalteten Hände zu Gott emporhob.
Der Schleier der Nachsicht mit mir selber war vom Kopf bis zu den FĂźĂen zerrissen: ich sah mein Leben als ein Ganzes; ich verfolgte es von den Tagen der Kindheit an, als mein Vater mich an der Hand gefĂźhrt hatte, durch die entsagungsvollen MĂźhen meiner Berufsarbeit hindurch, um immer und immer wieder mit dem gleichen GefĂźhl, daĂ es keine Wirklichkeit sei, zu den hĂśllischen Schrecknissen des Abends zu gelangen. Ich hätte laut schreien mĂśgen; mit Tränen und Gebeten suchte ich den Haufen häĂlicher Bilder und Klänge niederzuhalten, die aus meiner Erinnerung auf mich losstĂźrmten; aber immer wieder, zwischen meinen Gebeten, starrte mir das gräĂliche Antlitz meiner Missetat in die Seele. Als diese Gewissensbisse an Schärfe zu verlieren begannen, folgte ihnen ein GefĂźhl der Freude. Das Problem meiner LebensfĂźhrung war erlĂśst: Hyde war fortan unmĂśglich; ob ich wollte oder nicht, ich war jetzt auf das bessere Teil meines Daseins beschränkt â und oh! welche Wonne war dieser Gedanke! Mit welcher willfährigen Demut fĂźgte ich mich von neuem in die Grenzen und Schranken des natĂźrlichen Lebens! Mit welchem aufrichtigen Verzicht verschloĂ ich die TĂźr, durch die ich so oft gegangen und gekommen war, und zertrat den SchlĂźssel mit meinen FĂźĂen!
Am nächsten Tage kam die Nachricht, daĂ der Mord eine Zuschauerin gehabt hatte, daĂ Hydes Schuld der Welt bekannt war, und daĂ das Opfer ein Mann war, der hoch im Ăśffentlichen Ansehen stand. Es war nicht allein ein Verbrechen â es war ein tragischer Wahnsinn gewesen.
Ich glaube, ich war froh, dies zu wissen; ich glaube, ich war froh darßber, daà meine besseren Antriebe jetzt hinter den Schrecknissen des Schafotts wie hinter Befestigungswerken lagen. Jekyll war jetzt meine Zitadelle, mein sicherer Zufluchtsort; sobald Hyde einen Augenblick hervorlugte, wßrden die Hände aller Menschen sich erheben und ihn tÜten.
Ich beschloĂ, durch meine kĂźnftige LebensfĂźhrung die Vergangenheit wieder gutzumachen; und ich darf ehrlich sagen, daĂ mein EntschluĂ einige gute FrĂźchte gezeitigt hat. Du weiĂt selber, wie ernst ich in den letzten Monaten vorigen Jahres mich bemĂźhte, Leiden zu lindern; Du weiĂt, daĂ viel fĂźr andere getan wurde, und daĂ mir die Tage ruhig, beinahe glĂźcklich dahingingen. Ich kann auch nicht behaupten, daĂ ich dieses wohltätigen, unschuldigen Lebens ĂźberdrĂźssig wurde; ich glaube im Gegenteil, daĂ ich es von Tag zu Tag freudiger empfand. Aber auf mir lag immer noch der Fluch der Zwiespältigkeit meines Wollens; und als die erste Schärfe meiner Reue abgestumpft war, begann meine niedrigere Natur, der ich so lange nachgegeben und die ich erst seit so kurzer Zeit in Fesseln gelegt hatte, murrend nach Freiheit zu verlangen. Nicht, daĂ ich davon geträumt hätte, Hyde wieder auferstehen zu lassen â der bloĂe Gedanke daran brachte mich zum Wahnsinn: nein, in meiner eigenen PersĂśnlichkeit fĂźhlte ich wieder die Versuchung, mit meinem Gewissen zu markten, und wie ein gewĂśhnlicher geheimer SĂźnder fiel ich zuletzt vor dem Eingreifen der Versuchung.
Jedes Ding nimmt einmal ein Ende; das geräumigste MaĂ wird schlieĂlich voll, und dieser kurze Augenblick einer Nachgiebigkeit fĂźr das BĂśse vernichtete endgĂźltig das Gleichgewicht meiner Seele. Trotzdem war ich darĂźber nicht unruhig in mir; daĂ ich gefallen war, schien natĂźrlich zu sein; gewissermaĂen eine RĂźckkehr zu den alten Tagen, bevor ich meine Entdeckung gemacht hatte.
Es war ein schĂśner, klarer Januartag; der aufgetaute, bisher gefroren gewesene Boden war feucht, aber der Himmel droben war wolkenlos; Regents Park war voll von wĂźrzigem FrĂźhlingsduft. Ich saĂ in der Sonne auf einer Bank; das Tier in mir leckte die abgenagten Knochen der Erinnerung; das Geistige in mir schlummerte ein wenig, kĂźnftige Reue versprechend, aber noch nicht geneigt, diese zu beginnen. Im Grunde, so dachte ich bei mir, war ich doch nur wie alle meine Nachbarn. Und dann lächelte ich, indem ich mich selber mit anderen Menschen verglich: meinen tätigen Willen zum Guten mit der trägen Grausamkeit ihrer Nachlässigkeit! Und gerade in dem Augenblick dieses selbstgefälligen Denkens befiel mich ein Schwindel, eine fĂźrchterliche Ăbelkeit und ein tĂśdliches Schaudern. Dies ging vorĂźber und es blieb nur eine Schwäche; und als dann auch dieses GefĂźhl der Schwäche aufhĂśrte, begann ich zu merken, daĂ mein Denken sich geändert hatte: ich empfand eine grĂśĂere KĂźhnheit, eine Verachtung jeder Gefahr, eine Befreiung aus den Banden der Pflicht. Ich sah an mir herab; meine Kleider hingen unfĂśrmlich um meine zusammengeschrumpften Glieder; die Hand, die auf meinem Knie lag, war dickaderig und haarig. Ich war wieder Edward Hyde.
Einen Augenblick zuvor war ich der Achtung aller Menschen sicher gewesen, ein reicher, geliebter Mann â in meinem EĂzimmer zu Hause stand der Tisch fĂźr mich gedeckt. Und jetzt war ich ein Wild, das alle Menschen verfolgten â gehetzt, heimatslos, ein bekannter MĂśrder, der dem Galgen gehĂśrte.
Meine Vernunft wankte, aber sie lieà mich nicht gänzlich im Stich. Ich habe mehr als einmal bemerkt, daà in meinem zweiten Ich meine Fähigkeiten haarscharf zugespitzt zu sein schienen, daà mein Geist elastischer gespannt war. So kam es, daà in einem Augenblick, wo Jekyll vielleicht unterlegen sein wßrde, Hyde sich auf die HÜhe des Ereignisses erhob.
Meine Drogen befanden sich in einem der Glasschränke meines Arbeitszimmers. Wie konnte ich sie bekommen? Dies war das Problem, das ich zu lĂśsen mich entschloĂ, indem ich meine Hände an die Schläfen preĂte.
Die LaboratoriumstĂźr hatte ich verschlossen. Wenn ich durch mein eigenes Haus in das Arbeitszimmer zu kommen versuchte, wĂźrden meine Dienstboten mich an den Galgen liefern. Ich sah, daĂ ich mich eines Vermittlers bedienen mĂźĂte, und dachte an Lanyon. Wie konnte ich diesen erreichen? wie ihn Ăźberreden? Angenommen, daĂ ich der Verhaftung auf der StraĂe entging, wie konnte ich zu ihm persĂśnlich kommen? Und wie sollte ich, ein unbekannter, abstoĂend aussehender Besucher, den berĂźhmten Arzt dahin bringen, in das Studierzimmer seines Kollegen Dr. Jekyll einzubrechen? Dann erinnerte ich mich, daĂ von meinem ursprĂźnglichen Ich ein Teil stets mir geblieben war: Ich konnte in meiner eigenen Hand schreiben; und sobald ich diesen Funken hatte aufzucken sehen, lag der Weg, den ich zu gehen hatte, vom Anfang bis zum Ende hell erleuchtet vor mir.
Demgemäà machte ich meine Kleider zurecht, so gut ich konnte, rief einen vorĂźberfahrenden Hansom an und fuhr nach einem Gasthof in Portland Street, dessen Name mir zufällig einfiel. Der Kutscher konnte seine Heiterkeit nicht zurĂźckhalten, als er mich ansah â und mein Aussehen war in der Tat komisch genug, so tragisch auch das Schicksal war, das diese Kleider verhĂźllten. Ich fletschte in einem Anfall teuflischer Wut meine Zähne gegen ihn, und das Lächeln erstarb auf seinem Gesicht â zum GlĂźck fĂźr ihn, aber zu noch grĂśĂerem GlĂźck fĂźr mich selbst, denn im nächsten Augenblick hätte ich ihn sicherlich von seinem Bock heruntergerissen.
Als ich in den Gasthof eintrat, blickte ich mit einem so finsteren Gesicht um mich, daĂ die Kellner zitterten; keinen Blick wechselten sie in meiner Gegenwart, sondern empfingen dienstbereit meine Befehle, fĂźhrten mich in ein Zimmer und brachten mir Schreibzeug.
Hyde in Lebensgefahr war ein neues GeschĂśpf fĂźr mich: von unbändigem Zorn geschĂźttelt, bis zur Mordlust aufgeregt und danach lechzend, Schmerzen zu bereiten. Aber das GeschĂśpf war auch schlau: es meisterte seine Wut mit einer groĂen Willensanstrengung, verfaĂte die beiden wichtigen Briefe, einen an Lanyon und einen an Poole; und um einen schriftlichen Beweis zu erhalten, daĂ sie der Post Ăźbergeben wären, gab er Auftrag, sie einschreiben zu lassen.
Sodann saĂ er den ganzen Tag am Kaminfeuer in seinem Zimmer und kaute an seinen Nägeln. Auf seinem Zimmer speiste er auch, allein mit seinen Ăngsten, während der Kellner sichtbar vor seinen Augen zitterte. Und dann, als die Nacht vollkommen angebrochen war, setzte er sich in die Ecke einer geschlossenen Droschke und lieĂ sich kreuz und quer in den StraĂen der City herumfahren. Er, sage ich â ich kann nicht sagen: Ich. Dieses Kind der HĂślle hatte nichts Menschliches; in ihm lebte nichts als Furcht und HaĂ. Und als er zuletzt, weil er glaubte, der Kutscher finge an argwĂśhnisch zu werden, die Droschke bezahlte und zu FuĂ sich weiterwagte, in seinen schlechtsitzenden Kleidern eine auffällige Erscheinung inmitten der nächtlichen Passanten, da rasten diese beiden niedrigen Leidenschaften in ihm wie ein Sturm. Er ging schnell, von seinen Ăngsten gehetzt, mit sich selber sprechend, durch die weniger belebten NebenstraĂen sich drĂźckend und die Minuten zählend, die ihn noch von der Mitternachtsstunde trennten. Einmal sprach ein Weib ihn an â ich glaube, sie wollte ihm StreichhĂślzer verkaufen. Er schlug ihr ins Gesicht, und sie rannte davon.
Als ich bei Lanyon wieder zu mir kam, ging das Entsetzen meines alten Freundes mir vielleicht zu Herzen â ich weiĂ es nicht â es war hĂśchstens nur wie ein Tropfen im Meere, im Vergleich mit dem Grausen, womit ich auf diese Stunden zurĂźckblickte. Eine Veränderung war Ăźber mich gekommen, mich quälte nicht länger die Furcht vor dem Galgen, sondern der entsetzliche Gedanke, daĂ ich Hyde sei. Ich hĂśrte Lanyons Worte, die mich verdammten, wie in einem halben Traum; wie in einem halben Traum betrat ich mein eigenes Haus und legte mich zu Bett. Nach der Anstrengung des Tages schlief ich so fest und tief, daĂ nicht einmal die Schreckgespenster, die mich verfolgten, mich aufwecken konnten. Am Morgen erwachte ich erschĂźttert, geschwächt, aber doch erfrischt. Ich haĂte und fĂźrchtete immer noch jeden Gedanken an das Tier, das in mir schlief, und ich hatte natĂźrlich nicht die entsetzlichen Gefahren des vorigen Tages vergessen; aber ich war doch wieder zu Hause, in meinem eigenen Heim und ganz in der Nähe meiner Drogen â und Dankbarkeit fĂźr meine Rettung leuchtete so stark in meiner Seele, daĂ sie beinahe wie helle Hoffnung glänzte.
Nach dem FrĂźhstĂźck schritt ich gemächlich Ăźber den Hof, mit VergnĂźgen die kalte Winterluft einschlĂźrfend â da packten mich wieder jene unbeschreiblichen Empfindungen, die die Vorboten der Veränderung waren, und ich hatte gerade nur die Zeit, das Obdach meines Arbeitszimmers zu erreichen, da rasten und wĂźteten wieder die Leidenschaften Hydes in mir. Und ich war wieder Hyde.
Ich nahm bei dieser Gelegenheit eine doppelte Dosis, um mich wieder zu mir selber zu bringen; und ach! sechs Stunden später, als ich am Kamin saĂ und traurig in das Feuer sah, kamen die Schmerzen wieder, und ich muĂte abermals den Trank anwenden.
Kurz, von jenem Tage an war ich anscheinend nur durch eine groĂe Anstrengung und unter der unmittelbaren Wirkung des Trankes imstande, die kĂśrperliche Gestalt Jekylls festzuhalten. Zu allen mĂśglichen Stunden des Tages oder der Nacht ergriff mich das bedeutsame SchĂźtteln; vor allem wenn ich schlief oder auch nur fĂźr einen Augenblick in meinem Lehnstuhl druselte, wachte ich stets als Hyde auf. Dieses beständig drohende Elend und die Schlaflosigkeit, zu der ich mich selber verurteilte, und die weit Ăźber die Grenzen hinausging, die ich fĂźr menschenmĂśglich gehalten hatte, machten aus mir ein von Fieber vĂśllig ausgezehrtes GeschĂśpf, schwach an Leib und Verstand und nur mit dem einzigen Gedanken beschäftigt: dem Grausen vor meinem anderen Ich. Aber wenn ich schlief, oder wenn die Wirksamkeit der Arznei nachlieĂ, sprang ich fast ohne Ăbergang â denn die Schmerzen bei der Verwandlung wurden von Tag zu Tag geringer â in den Bereich meiner Phantasie, die von Schreckensbildern wimmelte â meine Seele kochte von grundlosem HaĂgefĂźhl, und mein KĂśrper schien nicht stark genug zu sein, die rasenden Lebenskräfte zu bändigen. Hydes Kräfte schienen mit Jekylls kränklicher Schwäche gewachsen zu sein. Und sicherlich war der HaĂ, der sie jetzt schied, auf beiden Seiten gleich. Bei Jekyll war dies ein Ding triebmäĂiger Lebensbetätigung. Er hatte jetzt die ganze MiĂgestaltung jenes GeschĂśpfes gesehen, das mit ihm einige von den Erscheinungsformen des BewuĂtseins gemeinsam hatte und wie er Erbe des Todes war â und Ăźber diese gemeinsamen Bande hinaus, die eben als solche gerade das bitterste Teil meines Elends waren, erschien ihm Hyde, trotz aller seiner Lebenskraft, als etwas nicht nur HĂśllisches, sondern Unorganisches.
Dies war das Schreckliche: daĂ aus dem Schlamm der HĂślle nicht nur Schreie und Stimmen zu kommen schienen; daĂ der gestaltlose Staub Glieder bewegte und sĂźndigte; daĂ das, was tot war und keine Gestalt hatte, sich die ĂuĂerungen des Lebens anmaĂte. Und dann auch dies: daĂ jenes rebellische Entsetzen ihn enger umklammerte als ein Weib, daĂ es wie ein Auge in ihm lag; daĂ es in sein Fleisch wie in einen Käfig eingesperrt war, wo er es murren hĂśrte, es um sich schlagen fĂźhlte, wie wenn es geboren werden wollte; und daĂ es in jeder Stunde der Schwachheit, in jedem Augenblick, sobald er sich vertrauensvoll dem Schlummer ĂźberlieĂ, sich gegen ihn auflehnte und ihn vom Thron des Lebens herabstieĂ.
Hydes HaĂ gegen Jekyll war von einer anderen Art: seine Angst vor dem Galgen trieb ihn beständig dazu, zeitweiligen Selbstmord zu begehen und in seinen untergeordneten Zustand zurĂźckzukehren, worin er ein Teil eines ganzen Menschen war. Aber er fluchte dieser Notwendigkeit, er fluchte der Schwäche, in die Jekyll jetzt versunken war, und er empfand als eine Beschimpfung den Abscheu, womit Jekyll ihn selber ansah. Daher die äffischen Streiche, die er mir fortwährend spielte, indem er mit meiner eigenen Handschrift Gotteslästerungen auf die Seiten meiner BĂźcher kritzelte, die Briefe meines Vaters verbrannte und dessen Bild zerriĂ. Und in der Tat: wäre nicht seine Furcht vor dem Tode gewesen, er hätte sich schon längst selber vernichtet, um mich in die Vernichtung hineinzuziehen. Aber seine Liebe zum Leben ist wunderbar. Ich gehe noch weiter: ich, der ich von dem bloĂen Gedanken an ihn Ăbelkeit verspĂźre und schaudere, wenn ich an die leidenschaftliche verächtliche Anklammerung ans Leben denke, die ihm eigen ist â ich entdecke in meinem Herzen Mitleid fĂźr ihn, da ich weiĂ, wie er sich vor meiner Macht fĂźrchtet, durch Selbstmord auch ihn ums Leben zu bringen.
Es hat keinen Zweck, und schrecklicherweise fehlt mir auch die Zeit, diese Schilderung noch zu verlängern. Es genĂźge, wenn ich sage: kein Mensch hat jemals solche Qualen gelitten. Und doch, die Gewohnheit â ich will nicht sagen, daĂ sie erleichterte, aber sie fĂźhrte eine gewisse Unempfindlichkeit der Seele herbei, eine Art von Abfindung mit meiner Verzweiflung; und meine Strafe hätte noch jahrelang andauern kĂśnnen, wenn nicht jetzt das letzte UnglĂźck eingetroffen wäre, das mich endgĂźltig von meinem eigenen Antlitz und von meiner eigenen Natur getrennt hat.
Mein Vorrat jenes Salzes, den ich seit meinem ersten Versuch niemals ergänzt hatte, begann knapp zu werden. Ich lieà einen neuen Vorrat holen und mischte den Trank; es folgte das Aufbrausen, sodann der erste Wechsel der Farbe, aber nicht der zweite. Ich trank das Gemisch, und es war unwirksam.
Du wirst von Poole erfahren, wie ich ganz London durchstĂśbert habe; es war vergeblich; und ich bin jetzt Ăźberzeugt, daĂ jenes erste Salz unrein war, und daĂ gerade jene unbekannte Unreinheit den Trank wirksam machte.
Ungefähr eine Woche ist vergangen, und ich beendigte jetzt diesen Bericht unter dem EinfluĂ des letzten von den alten Pulvern. Dies also ist das letztemal â fast ein Wunder! â daĂ Henry Jekyll seine eigenen Gedanken denken oder sein eigenes (jetzt wie traurig verändertes!) Antlitz im Spiegel sehen kann. Ich darf auch nicht zu lange zĂśgern, mein Schreiben zum Ende zu bringen; denn wenn mein Bericht bis jetzt der Vernichtung entgangen ist, so geschah dies nur durch ein Zusammentreffen groĂer Vorsicht und sehr glĂźcklichen Zufalls. Sollten die Wehen der Verwandlung mich packen, während ich schreibe, so wĂźrde Hyde diesen Bericht in StĂźcke reiĂen; wenn aber einige Zeit vergangen ist, nachdem ich ihn auf die Seite gelegt habe, wird wahrscheinlich seine erstaunliche Selbstsucht und seine Beschränkung auf den Augenblick diese Schrift wieder einmal vor der Betätigung seiner äffischen Wut retten.
In der Tat: das Verhängnis, das sich immer tiefer auf uns beide herabsenkt, hat ihn bereits verändert und geduckt. Wenn ich in einer halben Stunde wiederum und fĂźr immer seine verhaĂte Gestalt annehme, dann werde ich, das weiĂ ich, schaudernd und weinend in meinem Stuhl sitzen, oder mit gespanntem, ängstlichem Horchen in diesem Zimmer auf und ab laufen, das meine letzte irdische Zuflucht ist, ich werde auf jedes drohende Geräusch lauschen.
Wird Hyde am Galgen sterben? Oder wird er den Mut finden, im letzten Augenblick sich selber zu befreien? Das weiĂ Gott. Mir ist es gleichgĂźltig.
Dies ist meine wahre Todesstunde, und was noch folgen wird, das geht einen anderen an als mich. Und so lege ich denn jetzt die Feder nieder, versiegele meine Beichte und bringe damit das Leben des unglĂźcklichen Henry Jekyll zum Ende.