Frankenstein: Kapitel 15 (19/28)

Das war die Geschichte meiner Freunde. Sie machte einen tiefen Eindruck auf mich. Ich lernte daraus ihre guten Seiten schätzen und die Fehler des Menschengeschlechts mißbilligen.

Damals erschien mir jedes Verbrechen wie ein Übel, das vollkommen außerhalb meines Gesichtskreises lag. Ich meinte es wirklich gut und hoffte, ein nützliches Glied der kleinen Gesellschaft werden zu können, die ich bis jetzt kennen gelernt hatte.

Bald nach meiner Ankunft in dem Schuppen hatte ich in einer Tasche des Kleides, das ich bei meiner Flucht aus deinem Laboratorium mitgenommen, einige Papiere entdeckt. Zuerst kümmerte ich mich nicht darum, aber nun, da ich sie zu entziffern vermochte, machte ich mich eifrig daran sie zu studieren. Es war dein Tagebuch aus den vier Monaten, die meiner Schöpfung vorausgingen. Du beschriebst darin jeden Fortschritt, den dein Werk machte, und dazwischen fanden sich wieder Notizen über deine Nachrichten von zu Hause. Du erinnerst dich sicherlich dieser Blätter. Hier sind sie. Alles, was darin steht, gibt Aufschluß über meinen Ursprung. Die ganzen häßlichen, abstoßenden Details sind anschaulich geschildert; du gibst die genaueste Beschreibung meiner verhaßten, abscheulichen Persönlichkeit in einer Sprache, die deinen Ekel nur zu deutlich zum Ausdruck bringt und mir unsägliches Leid verursachte. Ich wurde förmlich krank, als ich das alles las. »Verfluchter Tag, an dem ich ins Leben trat,« schrie ich in rasender Verzweiflung. »Verflucht sei mein Schöpfer. Warum mußtest du auch ein Ungeheuer schaffen, das so häßlich war, daß selbst du voll Ekel dich von mir abwandtest? Gott bildete den Menschen in seiner Güte nach seinem eigenen Bilde; aber du gabst mir Antlitz und Gestalt, die nur ein erschreckendes Zerrbild deines Leibes waren. Satan selbst hat seine Genossen, die mit ihm leben; aber ich bin allein und verhaßt, wo man mich erblickt.«

Das waren die Gedanken, die mein Elend und meine Einsamkeit gebaren. Aber wenn ich mir überlegte, wie freundlich und gut meine Beschützer sein mußten, tröstete ich mich damit, daß sie sich an meine körperliche Häßlichkeit gewöhnen würden, wenn sie erst erkannt hätten, daß mein Inneres so ganz anders sei als mein Äußeres. Waren sie imstande, einen um Mitleid und Freundschaft Flehenden von ihrer Tür wegzujagen, weil er so mißgestaltet war? Schließlich war es mir klar, daß ich nicht die Hoffnung aufgeben dürfe, und bereitete mich auf eine Begegnung mit ihnen vor, die über mein ganzes künftiges Geschick entscheiden mußte. Trotzdem schob ich aber die Ausführung des Planes noch um mehrere Monate hinaus, denn die Wichtigkeit, die ich der Sache beilegte, erfüllte mich immer wieder mit einer gewissen zaghaften Scheu. Außerdem merkte ich, daß meine Fertigkeit im Gebrauch der Sprache von Tag zu Tag wuchs, und wollte aus diesem Umstande Nutzen ziehen, um ihnen möglichst gut vorbereitet entgegentreten zu können.

Im Hause selbst hatte sich unterdessen manches verändert. Safies Ankunft hatte nicht nur Glück über die Seelen der guten Menschen ausgegossen, sondern es war auch ein gewisser Wohlstand eingekehrt. Felix und Agathe hatten jetzt mehr Zeit sich dem Vergnügen hinzugeben, da ihre Arbeiten von Dienstboten verrichtet wurden. Wenn sie auch vielleicht nicht reich waren, so schienen sie wenigstens zufrieden und glücklich. Ihr Leben floß friedlich und heiter dahin, während ich selbst eine Beute der unruhigsten, widersprechendsten Gefühle wurde. Je mehr mein Wissen sich erweiterte, desto klarer war es mir, daß ich ein Elender, Ausgestoßener sei. Ich entsagte ja noch nicht jeder Hoffnung, das ist wahr; aber sie entschwand immer wieder, wenn ich mein Spiegelbild im Wasser oder meinen Schatten im Mondschein sah, eben so rasch wie dieses Spiegelbild oder der Schatten selbst.

Ich tat mein Möglichstes, um dieser Angstgefühle Herr zu werden und mir Mut einzuflößen für das Unternehmen, von dem mich nur wenige Monate mehr trennten. Zuweilen gestattete ich sogar meinen Gedanken sich ein Paradies vorzugaukeln, in dem ich mit lieblichen Wesen, die mich verstanden, zusammenlebte; engelgleiche Gesichter lächelten mir Trost und Zuversicht zu. Aber alles war nur Wahn; keine Eva linderte mein Leid oder teilte meine Sorgen; ich war allein. Ich erinnerte mich der Worte, mit denen Adam vor seinen Schöpfer trat. Aber wer war der meine? Er hatte sich von mir gewandt und voll tiefster Erbitterung hatte ich nur Flüche für ihn.

So verging der Herbst. Erstaunt und betrübt sah ich die Blätter welken und fallen und erkannte, daß die Erde wieder dasselbe traurige, starre Aussehen annahm wie damals, als ich zuerst die Wälder und den lieben Mond gesehen.

Die Kälte fürchtete ich nicht, denn merkwürdigerweise war ich gegen diese wesentlich unempfindlicher als gegen die Hitze. Als ich keine Gelegenheit mehr hatte, die Blumen auf den Feldern zu betrachten und dem Gesang der Vögel zuzuhören, wandte ich meinen Freunden wieder mehr Aufmerksamkeit zu. Das Scheiden der schönen Jahreszeit tat ihrem Glücke keinen Abbruch. Sie waren alle einander herzlich zugetan und freuten sich ihres Lebens, unbekümmert um das, was draußen in der Natur vor sich ging. Je öfter ich sie sah, desto ungeduldiger nahm ich mir vor, ihren Schutz und Beistand anzurufen. Mein Herz dürstete danach, sich diesen liebenswürdigen Menschen offenbaren zu dürfen. Ihre Blicke liebevoll und mit Interesse auf mir haften zu sehen, war das, was ich am meisten ersehnte. Ich wagte es gar nicht daran zu denken, daß sie mich mit Grauen und Ekel von sich weisen könnten. Von ihrer Tür war sicher noch kein Hülfesuchender weggejagt worden. Mir war es ja um mehr zu tun als um Speise oder ein vorübergehendes Unterkommen, ich wollte ihre Liebe, ihr Mitleid; Dinge, deren ich mich keineswegs für unwürdig hielt.

Immer winterlicher ward es im Lande, und einmal schon hatte die Natur ihren ewigen Kreislauf vollendet, seit ich zum Leben erweckt worden war. Plan auf Plan entwarf ich in meinem Innern, wie ich es anfangen sollte, mich meinen Beschützern zu nähern. Endlich entschloß ich mich, das Haus dann zum ersten Male zu betreten, wenn der Alte allein war. Ich war mir darüber vollkommen im klaren, daß es meine außergewöhnliche Häßlichkeit gewesen war, was diejenigen erschreckt hatte, die bisher mit mir in Berührung gekommen waren. Meine Stimme war ja rauh, aber sie hatte nichts Abstoßendes. Ich dachte mir, daß ich zuerst die Liebe des alten de Lacey gewinnen müßte, um dann in ihm einen Fürsprecher bei seinen Kindern zu haben.

Eines Tages, die Sonne leuchtete goldig auf den farbigen Blättern, die allenthalben den Boden bedeckten, und schien noch einmal dem Auge den Sommer vortäuschen zu wollen, traten Safie, Felix und Agathe einen längeren Spaziergang an, während der Greis seinem Wunsche entsprechend zu Hause gelassen wurde. Als er allein war, nahm er seine Zither und spielte einige ernste, ergreifende Weisen, ernster und schöner, als ich sie je von ihm gehört. Zuerst lag ein Schimmer heller Freude auf seinem Angesicht, dann aber nahm es einen immer traurigeren, schmerzlicheren Ausdruck an. Er legte sein Instrument zur Seite, stützte das Haupt auf die Hände und schien in tiefes Nachsinnen versunken zu sein.

Mein Herz klopfte stürmisch; der Augenblick war gekommen, wo es sich entscheiden mußte, ob meine Hoffnungen begründet waren oder meine Furcht. Die Dienstboten waren alle zu einem Fest gegangen. Still war es im Hause und ringsum. Die Gelegenheit war günstig. Aber als ich zur Ausführung meiner Absicht schritt, versagten mir die Glieder den Dienst und ich sank zu Boden. Dann richtete ich mich wieder auf, und all meine Kraft und meinen Mut zusammennehmend entfernte ich die Bretter, die ich zu meinem Schutze an den Eingang des Schuppens gelehnt hatte. Die frische Luft tat mir wohl und mit froher Zuversicht näherte ich mich dem Eingangstore.

Ich klopfte. »Wer ist da?« ertönte die Stimme des alten Mannes aus dem Inneren »Tretet ein!«

Ich folgte der Aufforderung. »Entschuldigt, daß ich hier eindringe,« sagte ich. »Ich bin ein Wanderer, der etwas Ruhe bedarf. Ihr würdet mich zu großem Dank verpflichten, wenn Ihr mir einige Minuten Rast an Eurem gastlichen Herde gönnen möchtet.«

»Kommen Sie nur,« sagte de Lacey, »ich will Ihnen gern zu Diensten sein. Aber leider sind meine Kinder nicht hier, und da ich blind bin, wird es mir schwer fallen, einen Imbiß für Euch herbeizuschaffen.«

»Macht Euch deshalb keine Sorge, lieber Gastfreund, Hunger habe ich nicht; nur Ruhe und Wärme suche ich bei Euch.«

Ich ließ mich nieder und es entstand eine Pause. Ich wußte, daß jeder Augenblick kostbar war, wußte aber nicht, wie ich die Unterhaltung beginnen sollte. Da sagte der Alte:

»An Eurer Sprache, Fremdling, meine ich zu erkennen, daß Ihr ein Landsmann von mir seid. Seid Ihr Franzose?«

»Nein, das nicht, aber ich wurde bei einer französischen Familie erzogen und lernte nur ihre Sprache kennen. Ich habe nun die Absicht, den Schutz einiger Freunde zu suchen, die ich herzlich lieb habe und auf deren Gunst ich meine ganze Hoffnung setze.«

»Sind es Deutsche?«

»Nein, es sind Franzosen. Aber wollen wir von etwas anderem sprechen. Ich bin ein armes, verlassenes Geschöpf. Wenn ich mich auf Erden umsehe, habe ich keinen Verwandten, keinen Freund. Die liebenswürdigen Leute, zu denen ich will, haben mich noch nie gesehen und wissen nichts von mir. Ich bin voll Angst, denn wenn ich bei ihnen meinen Zweck verfehle, dann bin ich ausgestoßen aus der ganzen Welt.«

»Nur nicht verzweifeln! Freundlos sein ist ja ein Unglück. Aber die Herzen der Menschen sind, wenn nicht der Egoismus von ihm Besitz ergriffen hat, gut und mitleidig. Laßt also der Hoffnung Raum, daß diese Freunde, wenn sie wirklich gut und edel sind, Euch nicht verstoßen werden.«

»Sie sind gut, sie sind die besten Geschöpfe, die ich kenne; aber unglücklicherweise haben sie ein Vorurteil gegen mich. Ich habe bis jetzt ein sehr harmloses Leben geführt und bin auch gewissermaßen wohltätig gewesen. Aber ein Schleier liegt vor ihren Augen; denn anstatt in mir einen treuen, aufrichtigen Freund zu sehen, halten sie mich für ein verabscheuungswürdiges Ungetüm.«

»Das ist allerdings traurig. Aber ist es Euch, wenn Ihr wirklich so unschuldig seid, nicht möglich, sie von der Wahrheit zu überzeugen?«

»Das eben möchte ich, und wenn ich daran denke, ergreift mich eine entsetzliche Angst. Ich liebe diese Menschen zärtlich, ich bin unerkannt schon Monate lang mit ihnen in freundschaftlichem Verkehr gestanden; aber sie meinen, ich wolle ihnen schaden, und diese Meinung will ich ihnen nehmen.«

»Wo wohnen denn diese Leute?«

»Nicht weit von hier.«

Der Alte schwieg einen Moment, dann sagte er: »Wenn Ihr mir rückhaltlos Eure ganze Geschichte erzählen wollt, kann ich Euch vielleicht in diesem Bestreben helfen. Ich bin blind und erkenne Euer Gesicht nicht, aber es liegt in Eurer Rede etwas, das mir sagt, Ihr seid ein guter Mensch. Ich bin arm und lebe hier in der Verbannung; aber es macht mir Freude, einem Anderen in jeder Weise dienstbar zu sein.«

»Edler Mann, wie danke ich Euch! Ich nehme Euer hochherziges Anerbieten an. Ihr erhebt mich mit Eurer Güte aus dem Staube und ich hoffe, daß es Euch gelingen wird, mich so wirksam zu schützen, daß ich nicht mehr aus der Gesellschaft Eurer Mitmenschen vertrieben werde.«

»Davor bewahre Euch der Himmel! Und wenn Ihr ein Verbrecher wäret, denn das ist das einzige, was Euch verzweifeln lassen kann. Auch ich bin unglücklich; ich bin, vollkommen unschuldig, mit meiner ganzen Familie aus der Heimat verbannt worden. Ihr werdet dann begreifen, daß ich Eurem Unglück nicht gefühllos gegenüberstehe.«

»Wie kann ich Euch danken, mein einziger, liebster Wohltäter? Von Euren Lippen habe ich das erstemal Worte der Güte gehört, die mir galten. Das werde ich Euch nimmer vergessen. Und die Freunde, denen ich ja nun bald gegenübertreten werde, hoffe ich, werden mir auch barmherzig sein.«

»Darf ich den Namen und den Wohnort dieser Freunde wissen?«

Ich schwieg. Das war der Augenblick, der mir das Glück auf immer bringen oder rauben mußte. Ich rang nach Worten, um ihm alles einzugestehen, aber ich fand nicht die Kraft. Ich sank auf einen Stuhl und stöhnte laut. Draußen hörte ich die Schritte der jungen Leute. Zeit war keine mehr zu verlieren. Ich ergriff die Hand des Greises und schrie: »Nun ist es Zeit, daß ich es sage. Helft mir und schützt mich! Ihr und die Euren sind die Freunde, die ich suche. Verlaßt mich nicht in meiner Not!«

»Großer Gott!« rief der alte Mann. »Wer seid Ihr?«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Zimmers und Safie, Felix und Agathe kamen herein. Verstört und entsetzt starrten sie mich an. Agathe sank um und Safie rannte aus dem Zimmer, unfähig, der Ohnmächtigen Hülfe zu leisten. Felix stürzte auf mich zu und riß mich mit übermenschlicher Kraft von seinem Vater weg, an dessen Kniee ich mich geklammert hatte. Im Übermaß der Wut warf er mich zu Boden und schlug wie ein Rasender mit einem Stock auf mich ein. Ich hätte ihm ja leicht die Glieder auseinanderreißen können, wie es der Löwe mit der Gazelle tut. Aber das unendliche Leid nahm mir die Kraft. Ich sah, wie er den Arm zu einem neuen Schlag erhob, da sprang ich auf und rannte aus dem Hause. In der allgemeinen Verwirrung vergaß man mich zu verfolgen.


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