24. Juli. Whitby. – Lucy holte mich am Bahnhofe ab; sie sah süßer und lieblicher aus als je, und wir fuhren zusammen nach dem Hause am Crescent, wo sie Zimmer bewohnen. Es ist ein reizendes Fleckchen Erde. Der kleine Fluß, der Esk, kommt durch ein tiefes Tal herunter, das sich in der Nähe des Hafens erweitert. Ein großer Viadukt führt darüber hinweg, mit hohen Steinpfeilern, durch welche sich eine entzückende Aussicht auf die Landschaft eröffnet. Das Tal ist lieblich grün und so tief eingeschnitten, daß man von den Hängen aus nicht heruntersehen kann, wenn man nicht bis direkt an den Rand tritt, während man sonst einfach darüber hinwegschaut. Die Häuser der alten Stadt – auf der anderen Seite – sind alle mit roten Ziegeln gedeckt und übereinandergeschachtelt, wie wir es auf Gemälden von Nürnberg sehen. Gerade über der Stadt liegt die Ruine der Abtey Whitby, die von den Dänen zerstört wurde und in der der Teil von »Marmion« sich abspielt, in dem das Mädchen eingemauert wird. Es ist eine sehr schöne Ruine von ungeheurer Ausdehnung und voll von herrlichen, romantischen Plätzchen; es geht die Sage, daß sich öfter in den Fenstern eine weiße Frau sehen lasse. Zwischen dem Kloster und der Stadt befindet sich noch eine Kirche, die Pfarrkirche, um die sich ein ausgedehnter Friedhof mit vielen Grabsteinen ausbreitet. Meiner Ansicht nach ist es der reizendste Fleck von ganz Whitby; denn er liegt direkt über der Stadt und gewährt volle Aussicht auf den Hafen und die Bucht, in die sich die Kettleneß genannte Landspitze weit hinauserstreckt. Die Böschung ist so steil, daß schon Stücke heruntergebrochen sind, wodurch eine Anzahl Gräber zerstört wurden. An einer Stelle besonders hingen die Grabsteine weit hinaus über den sandigen Fußweg tief unten. Es führen Spazierwege mit Bänken zu beiden Seiten durch den Friedhof. Den ganzen Tag sitzen und gehen hier Leute, genießen die herrliche Aussicht und freuen sich des kräftigen Seewindes. Ich werde sehr oft heraufkommen und mich mit meiner Arbeit hier niederlassen. Tatsächlich sitze ich hier schon und schreibe, mein Buch auf den Knien, und höre den Gesprächen dreier alter Männer neben mir zu. Es scheint, als sei ihre ganze tägliche Beschäftigung, hier zu sitzen und zu plaudern.
Tief unter mir liegt der Hafen; auf der anderen Seite ragt eine Granitmauer weit in die See hinaus, deren Ende sich auswärts biegt; ein Leuchthaus steht darauf. Lange Wellen laufen an ihr entlang. Auf der Seite, gegen mich zu, macht die Hafenmauer eine Biegung nach einwärts, und ihr Ende bildet wieder ein Leuchtturm. Zwischen den beiden Piers ist nur eine schmale Einfahrt in den Hafen, die sich dann plötzlich verbreitert.
Besonders schön ist es bei Flut; aber wenn diese sich verlaufen hat, dann liegen die Sandbänke flach da, durch die sich der Eskbach windet, da und dort Felsblöcken ausweichend. Außerhalb des Hafens zieht sich, wohl eine halbe Meile lang, ein großes Riff hin, dessen scharf abbrechendes Ende sich gerade mit dem Leuchtturm deckt. Dort ist eine Boje mit einer Glocke, die bei hoher See anschlägt und klagende Töne in die Winde schickt. Es geht die Sage, daß man die Glocke weit draußen auf offener See hört, wenn ein Schiff verloren sei. Ich muß den alten Mann darüber fragen; eben kommt er des Weges.
Es ist ein drolliger, alter Knabe; er muß entsetzlich alt sein, denn sein Gesicht ist durchfurcht und zerrissen wie die Rinde eines Baumes. Er erzählt mir, daß er schon nahe an die Hundert sei und Matrose in der Grönländischen Fischerflotte war, als Waterloo geschlagen wurde. Er ist, fürchte ich, sehr skeptisch, denn als ich ihn über die Glocke auf der See und die weiße Frau in der Abtei fragte, antwortete er mir sehr barsch:
»Ich kümmere mich nicht um solche Sachen, Fräulein. Das sind lauter abgedroschene Dinge. Glauben Sie nicht, ich wolle damit sagen, sie seien nie gewesen, aber ich sage nur, daß sie nicht waren, so lange ich mich erinnern kann. Das ist alles ganz schön für Besucher und Ausflügler und dergleichen, aber nicht für ein so hübsches, junges Fräulein wie Sie. Diese Landratten von York und von Leeds, die immer gepökelte Heringe essen und Tee dazu trinken, und immer darauf aus sind, billig Strandgut zu kaufen, mögen ja daran glauben. Ich möchte gerne wissen, wer sich damit abgibt, ihnen immer solche Lügen zu erzählen – vielleicht die Zeitungen, die stets voll dummen Geschwätzes sind?« Ich dachte, er sei eine geeignete Persönlichkeit, von der ich allerlei interessante Dinge erfahren könnte, und ich bat ihn deshalb, mir etwas von der Walfischfängerei in vergangenen Tagen zu erzählen. Er wollte eben anfangen, da schlug es sechs; er stand sofort mühsam auf und sagte:
»Ich muß aber jetzt wieder heim, Fräulein. Mein Enkelkind hat es nicht gerne, daß ich sie warten lasse, wenn der Tee fertig ist. Es nimmt eine Menge Zeit weg, bis ich die Stufen da hinunterkomme, denn es sind ihrer viele, und ich, Fräulein, brauche mein Futter auf die Stunde.«
Damit humpelte er davon und ich sah ihn, so gut und rasch es ging, die Stufen hinunterklettern. Die Treppe ist charakteristisch für den Platz. Sie führt von der Stadt hinauf zur Kirche; es sind Hunderte von Stufen – wieviele weiß ich nicht – sie führen in einem großen Bogen hinauf; die Steigung ist so mäßig, daß man sogar zu Pferde leicht hinauf und herunter käme. Vermutlich gehörte sie ursprünglich zur Abtei. Ich muß aber jetzt heimgehen. Lucy hat mit ihrer Mutter Besuche gemacht; da es aber nur Anstandsvisiten sind, habe ich mich nicht beteiligt. Sie werden unterdessen wohl heimgekommen sein.
1. August. – Ich kam vor einer Stunde mit Lucy herauf, und wir hatten ein sehr interessantes Gespräch mit meinem alten Freund und den zwei anderen, die immer mit ihm kommen. Er ist augenscheinlich ihr Orakel und muß seinerzeit eine sehr energische Persönlichkeit gewesen sein. Er will absolut niemand recht geben und streitet jeden nieder. Wenn er mit Gründen nicht fertig wird, dann überschreit er sie und hält dann ihr Stillschweigen für Zustimmung. Lucy sieht süß aus in ihrem weißen Tenniskostüm: sie hat Farbe bekommen, seit sie hier ist. Ich bemerkte, daß die alten Männer Eile hatten, heraufzukommen und sich neben sie zu setzen. Sie ist so nett mit den alten Leuten; ich glaube, sie haben sich schlankweg in sie verliebt. Sogar mein alter Freund gab sich besiegt und widersprach ihr nicht, während er mir dagegen doppelten Widerstand leistete. Ich brachte ihn auf das Thema Sagen, und er begann plötzlich eine Art Rede zu halten. Ich will versuchen, sie aus dem Gedächtnis niederzuschreiben.
»Das ist alles Unsinn, das ganze Zeug; so und nicht anders ist es. Diese Hexen und Vorzeichen und Kobolde und Gespenster und Teufel sind doch alle nur erdacht, um Kinder und schwache Weiber zittern zu machen. Sie sind weiter nichts als Einbildung. Sie und alle Drohungen und Warnungen und Vorbedeutungen sind erfunden von Pfaffen, schlappen Kerls und Geschäftsreisenden, um sich ein bischen Gänsehaut zu machen oder die Leute zu etwas zu bringen, was sie sonst nicht täten. Ich werde ganz wild, wenn ich nur daran denke. Aber nicht genug, daß sie diese Lügen in Zeitungen drucken und von Kanzeln herunter predigen, nein, sie müssen sie auch auf Leichensteine schreiben. Schauen Sie nur herum, wohin Sie wollen, alle diese Steine, die gerade stehen, wie vor Stolz, sollten einfach umfallen unter der Last der Lügen, die auf ihnen stehen: ›Hier liegt begraben …‹, ›Dem Andenken des …‹, steht auf allen; und doch, nicht unter der Hälfte von ihnen liegt wirklich ein Toter, und ihr »Andenken« ist keine Prise Schnupftabak wert, geschweige denn geheiligt. Nur Lügen, nichts als Lügen, so oder so. Mein Gott, es wird ein sonderbares Gedränge geben am jüngsten Tage, wenn sie alle hier heraufkommen, um ihre Grabsteine zu holen, mit denen sie im Jenseits beweisen wollen, wie gut sie hienieden waren.«
Ich sah an des alten Mannes selbstzufriedener Miene und an der Art, wie er im Kreise herumsah, um sich des Beifalles seiner Genossen zu versichern, daß er »es mir besorgt« habe, und so fügte ich, um ihn zum Weiterreden zu veranlassen, hinzu:
»Aber, Herr Swales, das kann doch Ihr Ernst nicht sein? Sicherlich sind diese Grabsteine doch nicht alle falsch?«
»Unsinn! Nur wenige werden darunter sein, die nicht falsch sind. Das Ganze ist nur eine Lüge. Da sehen Sie nur her; Sie kommen als Fremde hierher und sehen den Kirchhof.« Ich nickte, weil ich meinte, ihm so besser meine Zustimmung zu erkennen zu geben, obgleich ich seinen Dialekt nicht verstand. Ich dachte mir aber, daß es etwas mit Kirche zu tun habe. Er fuhr fort: »Und Sie glauben, daß alle diese Steine über Menschen stehen, die hier gelebt?« Ich nickte wieder als Zeichen der Zustimmung. »Das gerade ist ja die Lüge. Da sind Grabstätten dabei, die sind so leer wie unseres alten Dun’s Tabaksdose am Freitag Abend.« Er stieß einen seiner Genossen an und alle lachten. »Und, mein Gott, wie sollte es auch anders sein können? Sehen Sie einmal diesen an, den hintersten hinter der Bank; lesen Sie!« Ich wendete mich um und las:
»Edward Spencelagh, Obermatrose, ermordet von Piraten an der Küste von St. Andreas im April 1854, im Alter von 30 Jahren.« Als ich mich wieder zu ihm wandte, fuhr Herr Swales fort:
»Wer brachte ihn denn heim, möchte ich wissen, um ihn hier einzugraben? Ermordet an der Küste von St. Andreas! Und Sie konnten glauben, er läge hier drunten! Nun, ich könnte Ihnen ein Dutzend nennen, deren Gebeine da oben in den Gewässern Grönlands ruhen«, er deutete nordwärts, »oder wo die Strömung sie sonst hingetragen. Da, um Sie herum sind ihre Grabsteine. Sie können mit Ihren jungen Augen die kleingeschriebenen Lügen lesen. Da, Braithwaite Lowrey – ich kannte seinen Vater, vermißt auf der Lively in Grönland anno 20; oder Andreas Woodhouse in denselben Gewässern ertrunken 1777 oder John Paxton, ein Jahr später bei Kap Farewell ertrunken, oder der alte John Rawlings, dessen Großvater mit mir zusammen segelte, ertrank im Golf von Finnland anno 50. Glauben Sie denn, daß alle diese Leute einen Run auf Whitby unternehmen werden, wenn die Posaune des jüngsten Gerichtes ertönt? Da habe ich doch einige Bedenken dagegen. Ich sage Ihnen, wenn die alle einmal zusammenkommen, wird es ein Gedränge und Geraufe geben, daß es sein wird wie der Kampf um die Eisscholle in vergangenen Tagen, wo wir dann unsere Wunden beim Scheine des Nordlichtes verbanden.« Das war offenbar ein Lokalwitz, denn der alte Herr kicherte vergnügt darüber, und seine Spießgesellen stimmten in heiterster Laune mit ein.
»Aber«, sagte ich, »vielleicht gehen Sie nicht von dem richtigen Standpunkt aus, wenn Sie annehmen, daß bei der Auferstehung all die armen Kerls, oder doch ihre Seelen, die Grabsteine zum jüngsten Gericht heranschleppen müssen. Halten Sie das wirklich für nötig?«
»Nun, zu was wären sonst die Grabsteine gut? beantworten Sie mir diese Frage, Fräulein!«
»Um ihren Verwandten eine Freude zu machen, denke ich.«
»Um ihren Verwandten eine Freude zu machen!« Er äffte mir höhnisch nach. »Wie kann es denn den Verwandten Freude machen, wenn sie wissen und wenn die ganze Stadt weiß, daß doch nur Lügen darauf stehen?« Er deutete auf einen Stein zu unseren Füßen, der flach auf den Boden gefallen war und auf dem man, ganz nahe dem Rande des Cliffs, einen Ruhesitz angebracht hatte. »Lesen Sie die Aufschrift auf dem Grabstein«, sagte er. Von meinem Platze aus hätte ich die Buchstaben verkehrt lesen müssen, dagegen saß Lucy bequemer und las:
»Geweiht dem Andenken des Georgie Canon, der in der Hoffnung auf eine fröhliche Auferstehung am 29. Juli 1873 durch Sturz vom Felsen von Kettleneß den Tod fand. Dieses Denkmal wurde dem heißgeliebten Sohne von der betrübten Mutter errichtet. Er war der einzige Sohn seiner Mutter und sie war Witwe.« »In der Tat, Herr Swales, ich kann hierin nicht das geringste Spaßhafte finden!« Sie machte diese Bemerkung in vollem Ernst, sogar mit dem Tone eines leisen Vorwurfes.
»Sie finden nichts Komisches daran! Ha, ha! Das kommt daher, Sie wissen nicht, daß die Mutter eine Teufelin war, die ihn haßte, weil er lahm war und an Krücken ging, und er haßte sie so, daß er Selbstmord beging, damit sie die Lebensversicherungssumme, auf die sie für ihn eingezahlt, nicht erhalte. Er schoß sich mit einer alten Muskete, die sie sonst zur Krähenjagd benützen, den Kopf ab. Das also ist die Erklärung seines Absturzes von dem Felsen. Und was die Hoffnung auf eine fröhliche Auferstehung betrifft, so habe ich ihn oft sagen hören, meiner Seele, er hoffte zur Hölle zu fahren, damit er nicht mit seiner Mutter, die sich sicherlich durch ihre Frömmigkeit den Himmel verdient, zusammen sein müßte. Also, enthält dieser Stein hier«, er klopfte mit seinem Stock darauf, »nicht einen ganzen Pack Lügen? Und würde nicht der Erzengel Gabriel ein sonderbares Gesicht machen, wenn Georgie, den Leichenstein auf seinem Buckel schleppend, die Stufen herauf gehumpelt käme, um sich damit zu legitimieren.«
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, aber Lucy gab dem Gespräch eine andere Wendung und sagte, indem sie aufstand:
»O, warum haben sie uns dies erzählt? Es ist mein Lieblingsplätzchen und ich kann es nicht aufgeben. Nun erfahre ich, daß ich fernerhin auf dem Grabe eines Selbstmörders werde sitzen müssen.«
»Das darf Sie doch aber nicht stören, Herzchen, und es würde dem armen Georgie gewiß eine große Freude bereiten, wenn er wüßte, daß ein so süßes Ding auf seinem Grabstein sitzt. Das darf Sie also nicht genieren. Sehen Sie, ich sitze hier schon Jahre lang, und es ist mir noch nie ein Leid geschehen. Bilden Sie sich eben ein, er läge nicht da unten oder Sie säßen wo anders. Meine Zeit ist aber nun um, und ich muß gehen. Ich empfehle mich Ihnen, meine Damen.« Damit humpelte er davon.
Lucy und ich blieben noch eine Zeit lang sitzen und es breitete sich so viel Schönheit zu unseren Füßen, daß wir andächtig unsere Hände verschlangen; sie erzählte mir nur von Arthur und ihrer kommenden Hochzeit. Das tat mir innerlich ein bischen weh, denn ich habe einen ganzen Monat von Jonathan nichts gehört.
Am gleichen Tage. – – Ich kam allein da herauf, denn ich bin sehr betrübt. Kein Brief für mich da. Ich hoffe, daß Jonathan nichts zugestoßen sein wird. Eben hat es neun geschlagen. Ich sehe da und dort Lichter in der Stadt aufflammen, da wo die Straßen laufen, in Reihen, und dann wieder vereinzelt an verschiedenen Stellen; sie laufen den Esk entlang und verlieren sich in der Biegung des Tales. Links von mir ist die Aussicht durch die scharfe, dunkle Firstlinie des Daches der alten Abtei abgeschnitten. Lämmer und Schafe blöken auf der Weide hinter mir, und man vernimmt das Klappern von Eselshufen auf der gepflasterten Straße tief unten. Die Musikkapelle auf dem Pier spielt einen kreischenden Walzer zur Belustigung, während weiter vom Hafen weg irgendwo in einem Nebengäßchen die Heilsarmee musiziert. Keine der Kapellen bemerkte etwas von der anderen, aber von hier oben kann ich sie beide sehen und hören. Ich möchte wissen, wo Jonathan ist und ob er meiner gedenkt! Ich wollte, er wäre hier.
Dr. Sewards Tagebuch.
5. Juni. – Der Fall Renfield wird immer interessanter, je mehr ich den Mann verstehen lerne. Er hat einige sehr stark hervortretende Eigenschaften: Selbstgefühl, Verschlossenheit und Zielbewußtsein. Ich möchte wissen, auf was sich letzteres bezieht. Ich glaube, er hat eine besonders festgestellte Tabelle, aber was er damit will, weiß ich nicht. Seine beste Eigenschaft ist die Liebe zu Tieren, obgleich er manchmal mit ihnen umgeht, daß man sie eher für eine besondere, perverse Grausamkeit halten möchte. Seine Launen sind von seltsamer Art. Gegenwärtig ist seine Spezialität der Fliegenfang. Er hat eine solche Menge beisammen, daß ich es ihm verbieten mußte. Zu meinem Erstaunen zeigte sich daraufhin kein Wutausbruch, sondern er nahm es mit gesetztem, ruhigen Ernst einfach hin. Er dachte einen Augenblick nach, dann sagte er: »Können Sie mir drei Tage Frist geben? Da werde ich sie alle wegschaffen.« Ich sagte es ihm zu, werde ihn aber scharf beobachten.
18. Juni. – Er hat sich nun auf die Spinnen verlegt, von denen er schon mehrere große Exemplare in einer Schachtel gefangen hält. Er füttert sie mit seinen Fliegen, deren Zahl auch schon beträchtlich abgenommen hat, obgleich er die Hälfte seiner Mahlzeiten dazu verwendet, um neue Opfer zu ködern.
1. Juli. – Seine Spinnen werden nun eine ebensogroße Plage wie die Fliegen, und heute erklärte ich ihm, daß er sich von ihnen werde trennen müssen. Er wurde bei dieser Ankündigung so traurig, daß ich ihm sagte, er müsse wenigstens einige davon frei lassen. Er beruhigte sich dabei und wurde wieder fröhlich, da ich ihm denselben Termin setzte wie zur Vernichtung der Fliegen. Einmal empfand ich heftigen Ekel vor ihm, denn als eine große Schmeißfliege, aufgebläht von irgend einer aasigen Nahrung, in das Zimmer schwirrte, fing er sie, hielt sie, wie anbetend, ein paar Augenblicke zwischen Daumen und Zeigefinger, und ehe ich noch seine Absicht erraten konnte, steckte er sie in den Mund und aß sie auf. Ich schalt ihn deswegen, er aber erwiderte, es sei sehr schmackhaft und wirke heilkräftig; es sei Leben, blühendes Leben, und gebe ihm auch neue Kraft. Das brachte mich auf eine Idee oder wenigstens auf das Bruchstück einer solchen. Ich muß nun zusehen, wie er der Spinnen Herr wird. Er hat sichtlich irgend ein tiefes Problem im Kopfe, denn er führt ein Notizbuch, in das er immer etwas einzutragen hat. Ganze Seiten sind voll von Zeichen, speziell einzelne Zahlen in Kolonnen, und deren Summen wieder in Kolonnen, als wenn er irgend eine statistische Feststellung machen wollte.
8. Juli. – Es ist Methode in seinem Wahnsinn, und die noch unvollständige Idee in meinem Kopfe nimmt festere Gestalt an. Bald wird etwas Vollständiges aus ihr werden. Ich hielt mich meinem Schützling einige Tage fern, so daß ich genau feststellen konnte, ob irgend eine Änderung zu bemerken sei. Die Dinge blieben so, wie sie gewesen waren, nur daß er mit einigen seiner Launen gebrochen und neue an ihre Stelle gesetzt hatte. Er hat mit Mühe einen Sperling gefangen und hat ihn schon beinahe gezähmt. Seine Dressurmittel sind einfach, der Spinnen sind schon weniger geworden. Die übriggebliebenen sind übrigens gut genährt, denn er bringt ihnen noch immer die Fliegen, die er mit seiner Mahlzeit ködert.
19. Juli. – Es geht vorwärts. Mein Freund hat nun eine ganze Sperlingskolonie, und seine Fliegen und Spinnen sind schon tüchtig dezimiert. Als ich eintrat, rannte er auf mich zu und sagte, er möchte mich um eine große Gunst bitten, um eine sehr, sehr große Gunst; und wie er so sprach, schmiegte er sich an mich wie ein schmeichelnder Hund. Ich fragte ihn, was es denn sei, und er antwortete mit einer gewissen Erregung in Stimme und Geberde:
»Ein Kätzchen, ein niedliches, kleines, schmiegsames, mutwilliges Kätzchen, mit dem ich spielen und das ich dressieren und füttern kann – – und füttern – – und füttern.« Ich war auf diese Bitte nicht unvorbereitet, denn ich weiß ja nun, daß seine Wünsche an Größe und Lebhaftigkeit immer zunehmen; aber ich wollte nicht, daß die niedliche Sperlingsfamilie dasselbe grausame Ende nehme wie die Fliegen und Spinnen. Ich sagte daher, ich wolle mir die Sache noch überlegen, und fragte ihn, ob er denn nicht lieber eine Katze wolle als ein Kätzchen. Seine Begierde verriet ihn, mit der er antwortete:
»O ja, gerne möchte ich eine Katze! Ich bat nur deswegen blos um ein Kätzchen, weil ich fürchtete, Sie könnten mir eine Katze nicht genehmigen. Aber es wird doch niemand geben, der mir ein Kätzchen mißgönnte?« Ich schüttelte den Kopf und sagte ihm, daß es leider momentan wohl nicht möglich sein werde, aber daß ich die Sache im Auge behalten wolle. Sein Gesicht wurde lang und ich konnte ein gefährliches, drohendes Zucken darin wahrnehmen; der Seitenblick, den er auf mich warf, hätte einen töten können. Der Mann ist mit unentwickelter Mordmanie behaftet. Ich will seine gegenwärtige Forderung überlegen und sehen, was zu tun ist; dann werde ich weiteres erfahren.
10 Uhr abends. – Ich besuchte ihn nochmals und fand ihn brütend in einem Winkel sitzen. Als ich hineintrat, warf er sich vor mir auf die Kniee und flehte mich an, ihm doch eine Katze zu genehmigen, sein Seelenheil hänge davon ab. Ich blieb trotzdem fest und machte ihm klar, daß ich seinen Wunsch jetzt nicht erfüllen könne, worauf er, ohne ein Wort zu sagen, wegging, an seinen Fingern nagend, und sich wieder in die Ecke setzte, wo ich ihn bei meinem Eintritt gefunden hatte: Ich werde ihn morgen früh wieder besuchen.
20. Juli. – Ich besuchte Renfield sehr früh, ehe noch der Wärter seine Runde gemacht hatte. Ich fand ihn schon aufgestanden und eine Melodie summend. Er streute gerade am Fenster seinen Zucker aus, den er sich aufgehoben hatte, und begann offenbar wieder mit seiner Fliegenfängerei; und er schien zufrieden dabei und hatte gute Erfolge. Ich schaute vergebens nach seinen Vögeln umher und fragte ihn dann, wo sie seien. Er erwiderte, ohne sich umzudrehen, sie seien alle fortgeflogen. Es lagen einzelne Federn im Zimmer umher, und auf seinem Kopfkissen war ein Tropfen Blut sichtbar. Ich sagte nichts und ging weg, beauftragte aber den Wärter, mich sofort zu benachrichtigen, wenn im Laufe des Nachmittags sich etwas Besonderes ereignen sollte.
11 Uhr vormittags. – Eben war der Wärter bei mir und meldete mir, daß Renfield sehr krank sei und eine Menge Federn erbrochen habe. »Ich glaube, Herr Doktor«, sagte er, »daß er seine Vögel gegessen hat. Er hat sie einfach genommen und im rohen Zustande verzehrt!«
11 Uhr abends. – Ich gab Renfield Abends ein starkes Opiat, genug, um ihn eine Nacht schlafend zu machen; dann nahm ich ihm sein Notizbuch weg, um es zu studieren. Es bestätigt meine Anschauungen, die ich über die Sache hatte. Mein Mordsüchtiger ist von besonderer Art. Ich muß einen neuen Klassifikationsnamen für diese Spezies erfinden; ich glaube, ich benenne ihn Zoophagus (Fresser von lebenden Wesen). Was er beabsichtigt, ist, so viele Lebewesen zu vernichten, als er irgend kann, und er hat es darauf angelegt, es in ausgiebigster Weise zu besorgen. Er gab einer Spinne möglichst viele Fliegen, und möglichst viele Spinnen einem Vogel, und bat dann um eine Katze, die die vielen Vögel fressen sollte. Was wäre dann wohl sein Nächstes gewesen? Es wäre fast der Mühe wert, ihn das Experiment durchführen zu lassen. Wenn irgend ein wichtiger Grund dafür vorläge, müßte es auch geschehen. Man hat auch über die Vivisektion gespottet, aber man sehe nur ihre Ergebnisse. Warum soll man der Wissenschaft in ihrem schwierigsten und vitalsten Zweig – der Lehre vom Gehirn – nicht Förderung angedeihen lassen? Hätte ich das Geheimnis nur eines solchen Gehirnes erforscht, hätte ich den Schlüssel zu den Ideen nur eines Wahnsinnigen – – ich brächte mein Fach zu einer solchen Höhe, daß Burdon-Sandersons Physiologie oder Ferriers Lehre vom Gehirn im Vergleich dazu nur reine Spielereien wären. Wenn nur ein hinreichender Grund vorläge! Ich darf nicht allzuviel daran denken, sonst komme ich wahrlich in Versuchung; ein genügender Grund würde der Wage gegen mich den Ausschlag geben, denn könnte ich nicht auch ein Ausnahmsgehirn, ein dem seinen verwandtes besitzen?
Wie klar der Mann denkt! Das tun übrigens die Irren immer innerhalb ihres Gesichtskreises. Ich möchte wissen, auf wie viele Leben er einen Menschen einschätzt oder ob nur als eines. Er hat seine Berechnungen ganz gewissenhaft abgeschlossen, und heute hat er wieder von neuem begonnen. Wie viele von uns legen sich Rechenschaft von jedem Tage ihres Lebens ab?
Mir kommt es vor, als hätte seit gestern mit dem Erlöschen meiner neuen Hoffnung auch mein Leben ein Ende, und daß ich gewissenhaft mit einem neuen beginnen müsse. Es wird wohl so bleiben, bis der große Buchhalter mit mir abrechnet und mein Hauptbuch mit einer Bilanz zu meinen Gunsten oder zu meinen Lasten abschließt. O, Lucy, Lucy, ich kann dir nicht zürnen, noch meinem Freunde, dessen Glück ja auch deines ist; nur heißt es jetzt für mich, sich fassen in Hoffnungslosigkeit und Arbeit. Arbeiten! Schaffen!
Wenn ich nur wenigstens, wie mein armer Wahnsinniger, einen so starken, aber guten und selbstlosen Antrieb zur Arbeit hätte, das wäre mir eine Wohltat.
Mina Murrays Tagebuch.
26. Juli. – Ich bin so besorgt, und es bietet mir etwas Erleichterung, mich hier etwas aussprechen zu können; es ist, als ob etwas mir zuflüsterte und auf mich lauschte. Auch ist etwas in den stenographischen Zeichen, das sie so sehr von der Kurrentschrift unterscheidet. Ich bin unglücklich wegen Lucy und wegen Jonathan. Ich hatte schon so lange nichts mehr von Jonathan gehört, da sandte mir gestern der liebe Herr Hawkins, der immer so gut zu mir ist, einen Brief von ihm. Ich hatte ihm geschrieben und ihn gebeten, mir mitzuteilen, ob er denn nichts von Jonathan gehört habe; er schrieb zurück, die Beilage habe er eben erhalten. Es ist nur eine Zeile, datiert von Schloß Dracula, und besagt, daß er gerade im Begriffe sei abzureisen. Das sieht Jonathan so gar nicht ähnlich; ich verstehe ihn nicht und es ist mir unheimlich. Dann zu allem Überfluß hat Lucy, die sonst ganz wohlauf ist, ihre alte Gewohnheit des Nachtwandelns wieder aufgenommen. Ihre Mutter sprach darüber mit mir, und wir haben ausgemacht, daß ich jede Nacht die Türe unseres Zimmers zuschließen und den Schlüssel zu mir nehmen werde. Frau Westenraa weiß, daß Nachtwandler gewöhnlich auf Dachfirsten und Klippenrändern spazieren gehen, dann aber plötzlich aufwachen und mit einem gräßlichen Schrei hinabstürzen. Arme Frau, sie hat natürlich Angst um Lucy, und sie erzählte mir, daß ihr Mann, Lucys Vater, dieselbe Gewohnheit hatte; er stand oft in der Nacht auf, zog sich an und wäre fortgegangen, wenn man ihn nicht aufgehalten hätte. Lucy will im Herbst heiraten und macht schon ihre Pläne bezüglich Kleidung und Hauseinrichtung. Ich nehme lebhaften Anteil daran, denn ich bin ja in der gleichen Lage, nur daß Jonathan und ich beabsichtigen, uns ganz einfach einzurichten. Herr Holmwood – – es ist Herr Holmwood, der einzige Sohn des Lords Godalming – – wird bald hierher kommen, wenn er abkömmlich ist, denn sein Vater ist nicht sehr gut daran; ich glaube Lucy zählt die Minuten, bis er da ist. Sie möchte ihn gerne hier heraufführen und ihm die Schönheit von Whitby zeigen. Es ist, möchte ich fast sagen, das Warten, das ihr so zusetzt; sie wird schon besser werden, wenn sie ihn wieder hat.
27. Juli. – Keine Nachricht von Jonathan. Ich beginne mich um ihn zu sorgen, obgleich ich ja keinen Grund dafür anzugeben wüßte; aber ich wünsche sehnlichst, daß er schreiben möge, und wäre es auch nur eine Zeile. Lucy nachtwandelt mehr als je, und jede Nacht weckt mich ihr Herumgehen im Zimmer auf. Glücklicherweise haben wir so warmes Wetter, daß sie sich wenigstens nicht erkälten kann; aber schon die Sorge um sie und die immer gestörte Nachtruhe beginnen schädlich auf mich einzuwirken; ich werde selbst nervös und schlaflos. Gott sei Dank hält Lucys Gesundheit stand. Herr Holmwood ist plötzlich nach Ring zu seinem Vater berufen worden, der ernsthaft erkrankt ist. Lucy ist bekümmert, weil das Wiedersehen nun wieder hinausgeschoben ist, aber äußerlich merkt man ihr nichts an. Sie ist ein bischen kräftiger und ihre Wangen haben einen lieblichen rosigen Schimmer. Sie hat das blutleere Aussehen vollkommen verloren. Ich bete darum, daß es von Bestand sein möge.
3. August. – Wieder eine Woche vorbei und noch keine Nachricht von Jonathan. Er hat auch an Herrn Hawkins nicht geschrieben, wie dieser mir mitteilt. Ich hoffe, er ist nicht krank. Aber er würde doch sonst geschrieben haben. Ich schaue immer seinen letzten Brief an, aber das ist kein Ersatz. Das Schreiben wäre an ihm, darüber ist gar kein Zweifel möglich. Lucy ist in der vergangenen Woche wieder weniger nachtgewandelt, aber sie ist in ein seltsames Sinnen versunken, das ich nicht begreifen kann. Selbst in ihrem Schlafe scheint sie mich zu beobachten. Sie versucht die Türe zu öffnen; wenn sie sie aber verschlossen findet, geht sie im Zimmer umher und sucht nach dem Schlüssel.
6. August. – Wieder drei Tage und keine Nachricht. Dieses Warten wird nachgerade schrecklich. Wenn ich nur wüßte, wohin ich schreiben soll oder wo ich ihn finden könnte, dann wäre es mir leichter; aber niemand hat ein Wort gehört seit seinem letzten Briefe. Es bleibt mir nichts weiter übrig, als Gott um Geduld zu bitten. Lucy ist erregter als gewöhnlich, befindet sich aber im Übrigen wohl. Letzte Nacht sah es sehr drohend aus und die Fischer prophezeiten Sturm. Ich werde auch versuchen, darauf zu achten und die Wetterzeichen kennen zu lernen. Heute haben wir grauen Himmel und die Sonne steht, während ich dies schreibe, in Wolken gehüllt hoch über Kettleneß. Alles ist grau, außer dem grünen Grase, das wie Smaragd leuchtet; graue Felsen, graue Wolken, deren unterste Ränder von der Sonne durchleuchtet werden, hängen über der grauen See, in die sich die Sandbänke wie graue Finger hinausstrecken. Die See brandet brüllend über die Untiefen und Sandbänke, graue Nebel streichen landeinwärts. Auch der Horizont verliert sich in grauem Dunst. Alles ist so unheimlich; die Wolken türmten sich wie gigantische Felsen, und über der See liegt ein dumpfes Brüten, als hätte sie ein Unglück vorauszusagen. Dunkle Gestalten tauchen da und dort am Strande auf, zuweilen halbverhüllt von den Nebeln, und sehen aus »wie Männer gleich wandelnden Bäumen«. Die Fischerboote hasten heimwärts und heben und senken sich in der Brandung, ehe sie in den Hafen einlaufen, und legen sich schräg auf die Seite. Da kommt der alte Swales. Er geht direkt auf mich zu; an der Art, wie er den Hut abnimmt, erkenne ich, daß er mit mir sprechen will.
Ich wurde tief ergriffen von der Veränderung, die in dem Alten vorgegangen ist. Nachdem er sich neben mich gesetzt hatte, begann er in einer sehr sanften Weise:
»Ich habe Ihnen etwas zu sagen, Fräulein.« Ich sah, daß es ihm nicht leicht wurde. So nahm ich denn seine alte runzlige Hand und bat ihn, geradeheraus zu sprechen. Dann sagte er, indem er seine Hand in der meinen ließ:
»Ich fürchte, mein Liebling, ich habe Sie mit all den häßlichen Dingen gekränkt, die ich die letzte Woche über die Toten und Ähnliches sprach; doch so bös habe ich es nicht gemeint und bitte Sie, daran zu denken, wenn ich einmal nicht mehr bin. Wir alten Leute, die doch schon gebrechlich sind und mit einem Fuße im Grabe stehen, lieben es nicht daran zu denken, und wir fühlen auch nicht gern die Nähe des Todes; deshalb habe ich mein eigenes Herz etwas aufheitern und mich etwas erleichtern wollen. Aber Gott segne Sie, Fräulein, ich fürchte den Tod nicht, nicht ein bischen; aber sterben möchte ich doch nicht gerne, so lange es noch anders geht. Meine Zeit wird schon recht nahe sein, denn ich bin alt, und hundert Jahre sind zu viel, als daß ein Mensch darauf rechnen könnte, und ich bin so nahe daran, daß wohl der Knochenmann schon seine Sense geschliffen hat. Sie sehen, ich kann nicht von der Gewohnheit lassen, darüber zu scherzen. Bald wird eines Tages der Todesengel für mich seine Posaune ertönen lassen. Aber trauern Sie nicht zu sehr, mein Liebling«, er sah, daß ich weinte, »wenn er heute Nacht noch riefe, würde ich mich nicht sträuben, seinem Rufe zu folgen. Denn das Leben ist schließlich doch nichts als ein Warten auf etwas anderes, was wir gerade nicht haben, nur der Tod ist etwas, worauf wir unbedingt uns verlassen können. Aber ich bin zufrieden, wenn er zu mir kommt, und er kommt rasch. Er kann schon unterwegs sein, während wir da hinausschauen und nachdenken. Vielleicht kommt er in dem Winde weit draußen über der See, der Untergang, Schiffbruch, düstere Verzweiflung und traurige Herzen bringt. Schauen Sie! Schauen Sie!« rief er plötzlich, »es ist etwas in diesem Winde und in der Luft, das klingt und aussieht und schmeckt und riecht wie der Tod. Er liegt in der Luft. Ich fühle ihn kommen.« Er nahm seinen Hut ab und hielt seine Arme ergebungsvoll ausgebreitet. Sein Mund bewegte sich, als spräche er ein Gebet. Nach einigen Augenblicken des Stillschweigens erhob er sich, drückte mir die Hand, segnete mich und sagte mir Lebewohl; dann humpelte er davon. All das rührte mich tief und regte mich sehr auf.
Ich war froh, daß der Küstenwart herankam mit seinem Fernrohr unter dem Arm. Er blieb stehen, um mit mir zu sprechen, wie er es immer tat; aber er sah dabei immer hinaus auf ein fremdes Schiff.
»Ich kann es nicht herausbringen«, sagte er, »dem Aussehen nach ist es ein Russe; aber es wird ja in der tollsten Weise herumgeworfen. Es weiß sich nicht im geringsten zu helfen; es scheint den Sturm kommen zu sehen und kann sich nicht entschließen, entweder nordwärts in See zu gehen oder den Hafen anzulaufen. Schauen Sie nur wieder hin! Es wird sonderbar gesteuert; überhaupt scheint gar keine Hand das Steuer zu führen; mit jedem Windstoß dreht es sich. Ich glaube, wir hören noch mehr davon, ehe der morgige Tag kommt.«