Die Biene Maja und ihre Abenteuer: Die Wunder der Nacht (10/17)

So verlebte die kleine Maja unter den Insekten die Tage und Wochen ihres jungen Lebens. Wohl vermißte sie bei ihrem Umhertreiben, bei allen Freuden und Gefahren, in der schönen sommerlichen Welt oft die Gefährten ihrer ersten Kindheit, und zuweilen überfiel sie ein schmerzvolles Heimweh nach dem verlassenen Königreich ihres Volkes. Auch kannte sie Stunden, in denen sie sich nach einer geordneten Tätigkeit sehnte, nach nützlicher Beschäftigung und nach Gesellschaft unter ihresgleichen. Aber sie hatte im Grunde eine ruhlose Natur, die kleine Maja, und sie würde sich wohl kaum schon dauernd in der Gemeinschaft der Bienen wohlgefühlt haben. Bei allen Tieren, wie auch unter den Menschen, kommt es vor, daß einzelne Charaktere sich nicht in die Gewohnheiten aller schicken können, und man muß vorsichtig sein und ernstlich prüfen, bevor man solch ein Wesen verurteilt. Denn es ist keineswegs immer nur Trägheit oder Eigensinn, sondern häufig verbirgt sich hinter solchem Drang eine tiefe Sehnsucht nach Höherem oder Besserem, als der Alltag zu bieten vermag, und aus jungen Durchgängern sind oft erfahrene und kluge Männer geworden oder verständige und gütige Frauen. Und die kleine Maja hatte im Grunde ein reines und empfängliches Herz, und ihre Stellung zur schönen weiten Welt, in der sie zum Leben erwacht war, war getragen von aufrichtiger Wißbegier und großer Freude an den Herrlichkeiten der Schöpfung.

Aber selbst im Glück schöner Erlebnisse ist das Alleinsein schwer, und je erfahrener die kleine Maja wurde, um so häufiger sehnte sie sich nach Gemeinschaft und Liebe. Sie war nun keine ganz junge Biene mehr, sondern ein prächtiges, starkes Bienentier, begabt mit blanken, gesunden Flügeln, einem spitzen und gefährlichen Stachel und einem ausgebildeten Sinn für die Gefahren und Freuden ihres Lebens. Sie hatte Erfahrungen gemacht und Kenntnisse gesammelt und wünschte sich nun oft, sie auf rechte Art verwenden zu können. Vielleicht wäre sie eines Tages in den Stock zurückgekehrt, hätte sich der Königin zu Füßen geworfen und ihre Verzeihung erfleht, um wieder in Ehren aufgenommen zu werden. Aber ein brennendes Verlangen hielt sie davon zurück: sie wünschte sich, den Menschen kennenzulernen. Sie hatte so viel Widersprechendes über die Menschen gehört, daß sie eher verwirrter als klüger geworden war, und doch ahnte sie, daß es in der ganzen Schöpfung nichts Mächtigeres, Klügeres und Erhabeneres als den Menschen gäbe.

Aus hoher Luft, aus weiter Entfernung hatte sie auf ihren Irrfahrten wohl zuweilen Menschen gesehen, schwarze, weiße und rote, auch solche, die vielfarbig und bunt bekleidet waren, kleine und große. Aber sie hatte sich niemals in die Nähe getraut. Einmal sah sie es rot am Bach schimmern, und da sie den Schein der Farbe für ein Blumenbeet hielt, war sie hinzugeflogen. Da fand sie einen Menschen mit goldenen Haaren und rosigem Angesicht. Er schlief in einem roten Kleid in den Blumen am Bach und sah trotz seiner furchtbaren Größe so gut und lieblich aus, daß ihr vor Entzücken Tränen in die Augen traten. Sie hatte alles um sich her vergessen und nur immer den schlummernden Menschen betrachten müssen. Was sie jemals an Bösem darüber gehört hatte, erschien ihr unmöglich, es war ihr, als müßte alles Schlechte Lüge gewesen sein, was man ihr jemals über solch liebliche Wesen berichtet hatte, wie dort eines im Schatten der flüsternden Birken schlief.

Später kam eine Mücke zu ihr und grüßte.

„Mein Gott,“ rief Maja, ganz heiß vor Erregung und Freude, „sehen Sie dort den Menschen, wie schön, wie gut. Begeistert es Sie nicht?“

Die Mücke sah erst Maja sehr erstaunt an und drehte sich dann langsam nach dem Gegenstand ihrer Bewunderung um:

„Ja,“ sagte sie, „er ist gut, gewiß, ich habe ihn eben angebohrt. Schauen Sie, mein Leib schimmert rot von seinem Blut.“

Maja mußte ihrem Herzen mit der Hand zur Hilfe kommen, so sehr erschrak sie über die Kühnheit der Mücke.

„Wird er sterben?“ rief sie. „Wo haben Sie ihn verletzt? Wie können Sie nur den erforderlichen Mut und zugleich eine so unwürdige Gesinnung aufbringen? Sie sind ja ein Raubtier!“

Die Mücke lachte und antwortete mit ihrem hohen hellen Stimmchen sichtlich amüsiert:

„Dies ist doch nur ein ganz kleiner Mensch. Diese Größe wird Mädchen genannt, sobald die Beine bis zur Hälfte von einem abstehenden farbigen Panzer bedeckt sind. Ich kann natürlich hindurchstechen, aber in der Regel erreicht man die Haut nicht. — Sie haben ja eine ganz fabelhafte Unkenntnis, glauben Sie denn, die Menschen seien gut? Ich habe niemals einen gefunden, der mir freiwillig auch nur das kleinste Tröpfchen Blut gegönnt hätte.“

„Vom Menschen weiß ich allerdings noch nicht sehr viel“, sagte Maja kleinlaut.

„Aber Sie geben sich doch von allen Insekten am meisten mit den Menschen ab, Sie lassen sich am weitesten mit ihnen ein, das ist doch bekannt.“

„Ich habe das Königreich verlassen“, gestand Maja schüchtern. „Es gefiel mir nicht, ich wollte die Welt kennenlernen.“

„I, da sieh einer an“, sagte die Mücke und trat einen Schritt näher. „Wie bekommt Ihnen denn Ihr Umhertreiben? Ich muß sagen, daß es mir gefällt, Sie so unabhängig zu sehen. Ich für mein Teil würde mich niemals entschließen, den Menschen zu dienen.“

„Sie dienen auch uns“, sagte Maja, die es nicht ertragen konnte, daß man ihr Volk herabsetzte.

„Mag sein,“ antwortete die Mücke, „zu welchem Volk gehören Sie?“

„Ich stamme vom Volk der Bienen im Schloßpark. Die regierende Königin ist Helene die Achte.“

„So, so,“ machte die Mücke und verbeugte sich, „das ist eine beneidenswerte Abstammung. Alle Achtung. Sie hatten kürzlich Revolution, nicht wahr? Ich hörte das durch die Kundschafter des Schwarms, der ausgebrochen war. Habe ich recht?“

„Ja“, sagte Maja stolz. Es erfüllte sie mit Genugtuung und Freude, daß die Ihren so hohes Ansehen genossen und weit bekannt waren. Tief im Herzen wachte wieder das Heimweh nach ihrem Volke auf, sie wünschte sich, etwas Großes und Gutes für ihre Königin und zum Wohl ihres Staates tun zu können. Darüber vergaß sie nach dem Menschen zu fragen. Vielleicht fragte sie auch deshalb nicht mehr, weil sie von der Mücke nichts Gutes zu hören hoffte. Sie empfand die Kleine als frech und naseweis, und solche Leute wissen gewöhnlich über andere nur Schlechtes zu sagen.

Die Mücke war damals auch bald weitergeflogen.

„Ich nehme noch einen Schluck“, hatte sie gerufen. „Später werde ich mit den Gefährten in der Abendsonne fliegen, damit wir morgen gutes Wetter bekommen.“

Maja hatte sich davongemacht, weil es ihr unmöglich war, mit anzusehen, wie die Mücke dem schlafenden Kind Böses zufügte. Sie wunderte sich, daß die Mücke nicht daran zugrunde ging. Kassandra hatte ihr gesagt. „Wenn du einen Menschen stichst, mußt du sterben.“

Maja erinnerte sich dieses Vorfalls noch sehr genau, aber ihr Verlangen danach, vom Menschen soviel als möglich kennenzulernen, war keinesfalls befriedigt, sie beschloß, kühner zu werden und keine Anstrengungen zu scheuen, um zu ihrem Ziel zu gelangen.

Diese Wünsche Majas sollten sich auf wunderbare Art erfüllen und viel schöner, als sie es erwartet hatte. Die kleine Biene war an einem warmen Sommerabend früher als gewöhnlich zur Ruhe gegangen, und plötzlich erwachte sie mitten in der Nacht, das war ihr noch niemals geschehen. Ihr Erstaunen war unbeschreiblich, als sie die Augen öffnete und ihren kleinen Schlafraum über und über in ein stilles blaues Licht getaucht sah. Es sank vom Eingang nieder, dessen Öffnung wie unter einem silberblauen Vorhang strahlte. Sie wagte sich anfangs kaum zu rühren, aber sie fürchtete sich nicht, denn mit diesem Schein kam ein seltsam schöner Friede zu ihr hineingezogen. Und es klang etwas draußen in der Luft, was sie so fein und so voller Harmonie noch niemals vernommen hatte. Endlich trat sie schüchtern und ganz benommen vom Glanz dieser ungewöhnlichen Stunde an den Ausgang ihrer Baumhöhle und sah hinaus. Ihr war, als sei die ganze Welt durch ein Wunder verzaubert. Überall glitzerte und funkelte es von reinstem Silber, tausend helle Perlen leuchteten matt und selig im Gras, das in der Ferne wie unter feinen Schleiern lag, die Stämme der Birken und die schlafenden Blätter waren mit Silber übermalt. Und alles umher, und in der stillen, seligen Weite, war in ein sanftes blaues Licht gehüllt.

„Das ist die Nacht, das kann nur die Nacht sein“, flüsterte die kleine Maja und faltete die Hände.

Am hohen Himmel, ein wenig verhüllt durch die Blätter eines Buchenastes, stand eine volle, klare Silberscheibe, von der das Licht niedersank, das die ganze Welt verschönte. Erst nun erkannte Maja, daß um den Mond her eine unzählige Menge heller harter Lichtlein am Himmel brannten, schöner und stiller als alles, was sie jemals an Glanz gesehen hatte. Sie wußte nicht, was sie tun sollte vor Glück, daß sie die Nacht, den Mond und die Sterne und ihre lieblichen Wunder erlebte. Sie hatte von alledem nur gehört und niemals recht daran geglaubt.

Da vernahm sie wieder in ihrer Nähe ganz laut und weithin schallend den seltsamen Nachtgesang, der sie geweckt haben mußte. Es war ein schwingendes Zirpen in einem hellen Silberton, fast hätte man glauben können, daß das Licht vom Mond im Niederrieseln dies Klingen mit sich brachte. Sie schaute sich um und suchte nach der Ursache, aber im heimlichen Widerspiel von Licht und Schatten war es sehr schwer, etwas deutlich zu erkennen; alles war geheimnisvoll verhüllt und doch so wahr und heldenhaft schön.

Es hielt die kleine Maja nicht länger in ihrem Versteck, sie mußte hinaus in diese neue Pracht der Welt. Der liebe Gott wird mich behüten, dachte sie, ich habe ja nichts Böses vor.

Eben wollte sie davonfliegen, um in das blaue Licht über der Wiese zu kommen, auf die der volle Mond schien, als sie dicht in ihrer Nähe auf einem Buchenblatt ein kleines geflügeltes Tier ankommen sah, das sie noch niemals gesehen hatte. Und unmittelbar nachdem es angelangt war, richtete es sich auf gegen den Mond, hob den einen schmalen Flügel ein wenig und zog dann mit raschen Strichen sein Beinchen am Rand des Flügels auf und nieder. Es sah aus, als geigte es auf einer versteckten Geige, und richtig entstand jener zirpende Silberton, der die ganze Mondnacht füllte.

„Entzückend,“ flüsterte Maja, „nein, so was ist einfach himmlisch.“

Sie flog rasch hinüber. Die Sommernacht war lau und milde, so daß die kleine Biene nicht spürte, daß es kühler als am Tage war. Als sie auf dem Blatt bei der Fremden anlangte, brach diese jählings ihr Spiel ab, es schien Maja, als sei es noch nie so still gewesen wie nun. Es war gradezu unheimlich. Durch die dunklen Blätter rieselte das weiße, kühle Licht.

„Gute Nacht“, sagte die kleine Maja sehr höflich, denn sie dachte, man müßte ebenso in der Nacht grüßen, wie man es am Tage tut, und sie fügte rasch hinzu. „Entschuldigen Sie, bitte, daß ich störe, aber Ihr Spiel hat etwas so Anziehendes, wenn man es hört, muß man dem Klang nachgehen.“

Die Fremde schaute Maja mit großen Augen an:

„Was sind denn Sie für ein Krabbeltier?“ fragte sie endlich. „So was hab ich noch nie gesehen.“

„Ich bin durchaus kein Krabbeltier,“ sagte die Biene ernst, „ich bin Maja vom Volk der Bienen.“

„Ach, vom Volk der Bienen, so, so …“, sagte die Fremde. „Sie leben am Tage, nicht wahr? Ich habe durch den Igel von Ihrem Geschlecht gehört. Er erzählte mir, daß er am Abend die Toten fräße, die aus Ihrem Stock geworfen werden.“

„Ja,“ sagte Maja mit leisem Bangen, „das ist wahr, Kassandra hat mir davon erzählt, der Igel kommt in der Abenddämmerung, er schmatzt und sucht die Toten. Die Wächter haben es erzählt. Aber verkehren Sie denn mit dem Igel? Der Igel ist doch ein gradezu fürchterliches Untier.“

„Das finde ich nicht“, sagte die Fremde. „Wir Nachtgrillen stehen uns eigentlich ganz gut mit ihm. Natürlich, er versucht es immer wieder, uns zu greifen, aber es gelingt ihm nie. So necken wir ihn oft und treiben unser Spiel mit ihm. Wir nennen ihn Onkel. Leben muß schließlich jeder, nicht wahr? Und solange einer nicht von mir lebt, kann es mir ja gleichgültig sein.“

Maja schüttelte das Köpfchen, sie dachte anders darüber, sie aber wollte die Fremde nicht durch Widerspruch verletzen. So fragte sie freundlich:

„Sie sind also eine Grille?“

„Ja, eine Nachtgrille. Aber Sie dürfen mich nicht länger stören, ich muß spielen. Es ist Vollmond, und die Nacht ist wundervoll.“

„Ach, machen Sie eine Ausnahme,“ bat Maja, „erzählen Sie mir von der Nacht.“

„Die Sommernacht ist das Schönste in der Welt,“ antwortete die Grille, „sie füllt das Herz mit Seligkeit. Was Sie nicht aus meinem Spiel hören, werde ich Ihnen auch nicht erklären können. Warum muß man immer alles wissen? Wir armen Wesen wissen vom Dasein nur ein kleines Teil, aber fühlen können wir die ganze Herrlichkeit der Welt.“

Und sie begann ihr helles, jubelndes Silberspiel, es klang laut und übermächtig, wenn man es so nah hörte, wie Maja saß. Und die kleine Biene saß ganz still in der blauen Sommernacht und hörte zu und dachte sehr tief über das Leben nach.

Da wurde es neben ihr still. Es klirrte leise, und sie sah die Grille in den Mondschein hinausfliegen.

Die Nacht macht so traurig, dachte die kleine Maja.

Sie wollte nun hinunter auf die Blumenwiese. Am Bachrand standen Wasserlilien, sie spiegelten sich in der raschen Flut, die den Mondschein mit sich trug. Es war herrlich anzuschauen. Das Wasser flüsterte und blinkte und die geneigten Lilien schienen zu schlafen. Sie sind eingeschlafen vor lauter Glück, dachte die kleine Biene. Sie ließ sich auf einem weißen Blumenblatt, mitten im Mondschein nieder und konnte den Blick nicht von dem lebendigen Wasser des Baches wenden, das in zitternden Funken aufblitzte und wieder erlosch. Drüben am Ufer schimmerten Birken, und es sah aus, als hingen die Sterne darin.

Wohin fließt nur all dies Wasser, dachte sie. Die Grille hat recht, wir wissen so wenig von der Welt.

Da hörte sie dicht neben sich im Kelch einer Lilie ein feines singendes Stimmchen, so rein und glockenhell, wie sie noch niemals einen irdischen Klang vernommen hatte; ihr Herz begann laut zu klopfen, und ihr Atem stockte.

O, was wird geschehen, dachte sie, was werde ich zu sehen bekommen.

Die Lilie schwankte leicht, dann sah sie, daß eines der Blätter sich am Rande ein wenig nach innen bog und sie erblickte eine ganz kleine, schneeweiße Menschenhand, die sich mit winzigen Fingerchen daran festhielt. Dann tauchte ein blondes Köpfchen auf und ein lichtes, zartes Körperchen in einem weißen Kleid. Es war ein ganz kleiner Mensch, der aus der Lilie emporkam.

Den Schreck und das Entzücken der kleinen Maja kann niemand schildern. Sie saß wie erstarrt da und konnte ihre Augen nicht von dem Anblick wenden, der sich ihr darbot.

Das winzige Menschenwesen erklomm den Rand der Blüte, hob die Ärmchen gegen das Mondlicht und sah mit einem seligen Lächeln in die helle Nacht der Menschenerde. Dann kam ein leises Zittern in das durchscheinende Körperchen, und plötzlich entfalteten sich von den Schultern herab zwei helle Flügel, weißer als das Mondlicht und so rein wie Schnee. Sie überragten das blonde Haupt und sanken bis an die Füße nieder. Nie, nie hat die kleine Maja in ihrem Leben wieder etwas so Liebliches gesehen. Und während das lichte kleine Menschlein so dastand und seine Hände gegen den Himmel reckte, erhob es seine Stimme wieder, und Maja verstand das Lied, das in die Nacht hinausklang:

Meine Heimat ist das Licht.
Heller Himmel meine Freude.
Tod und Leben wechseln beide,
aber meine Seele nicht.

Meine Seele ist der Hauch,
der aus aller Schönheit bricht,
wie aus Gottes Angesicht,
so aus seiner Schöpfung auch.

Die kleine Maja überkam ein heftiges Schluchzen, sie konnte sich nicht erklären, was sie so traurig machte und sie gleichzeitig so beglückte.

Da wandte sich das kleine Menschenwesen nach ihr um:

„Wer weint denn da?“ fragte es mit seiner klaren Stimme.

„Ach, das bin nur ich“, stammelte Maja. „Entschuldigen Sie, daß ich gestört habe.“

„Warum weinst du denn?“

„Ich weiß es nicht,“ sagte Maja, „vielleicht nur, weil Sie so schön sind. Wer sind Sie, ach sagen Sie es mir, wenn ich nicht zuviel verlange. Sie sind sicher ein Engel.“

„O nein,“ sagte das kleine Wesen und blieb ganz ernst, „ich bin nur ein Blumenelf. Aber du kannst ruhig du zu mir sagen. Was machst denn du kleine Biene in der Nacht draußen auf der Wiese?“

Der Elf flog zu Maja hinüber, setzte sich auf ein gebogenes Lilienblatt, das ihn sanft schaukelte und betrachtete die kleine Biene ernst und freundlich. Und während Maja ihm erzählte, alles was sie wußte und wollte und was sie getan hatte, sahen immer die großen dunklen Augen aus dem weißen Elfengesicht sie an, unter dem goldenen Haar hervor, das im Mond zuweilen wie Silber glänzte.

Der Blumenelf strich Maja über das Köpfchen, als sie ihre Geschichte erzählt hatte und sah sie so innig und liebevoll an, daß die kleine Biene vor Glück die Blicke senken mußte. Und dann erzählte er ihr:

„Wir Elfen leben sieben Nächte, aber wir müssen in der Blume bleiben, in der wir geboren sind. Wenn wir die Blume verlassen, so müssen wir im Morgenrot sterben.“

Maja riß vor Angst und Schrecken die Augen weit auf.

„O rasch, rasch, flieg in deine Blume zurück!“ rief sie.

Der Elf schüttelte traurig den Kopf.

„Nun ist es zu spät,“ sagte er, „aber höre weiter. Die meisten Elfen verlassen ihre Blumen, denn es verbindet sich ein großes Glück damit. Wer seine Blume verläßt und so einen frühen Tod erleidet, der hat zuvor eine wunderbare Macht. Er kann dem ersten Wesen, das ihm begegnet, seinen liebsten Wunsch erfüllen. Wenn er ernstlich den Willen hat, die Blume zu verlassen, um andere zu beglücken, so wachsen ihm zugleich seine Flügel.“

„Ach, wie herrlich,“ rief Maja, „da würde ich auch die Blume verlassen. Das muß wunderschön sein, den liebsten Wunsch eines anderen zu erfüllen.“ Die kleine Biene dachte gar nicht daran, daß sie das erste Wesen war, dem der Elf auf seinem Flug aus der Blume begegnet war.

„Und dann,“ fragte sie, „mußt du dann sterben?“

Der Elf nickte, aber diesmal gar nicht traurig.

„Wir sehen noch das Morgenrot,“ sagte er, „aber wenn der Tau fällt, dann zieht es uns zu den feinen Schleiern hinüber, die über dem Gras der Wiesen schweben. Hast du nicht oft gesehen, daß diese Schleier ganz weiß leuchten, als wäre Licht darin? Das sind die Elfen, ihre Flügel und ihre Kleider. Und mit dem heraufsteigenden Licht verwandeln wir uns in Tautropfen. Die Pflanzen trinken uns und nehmen uns in ihr Blühen und Wachsen auf, bis wir nach Zeiten wieder als Elfen aus ihren Blumenkelchen steigen.“

„So warst du früher schon einmal ein anderer Elf?“ fragte Maja in atemloser Spannung.

Die ernsten Augen nickten ihr zu:

„Ja, aber ich habe es vergessen. Wir vergessen alles in unserm Blumenschlaf.“

„O, dein Los ist lieblich“, rief die kleine Maja.

„Es ist das Los aller Erdenwesen,“ sagte der Elf, „wenn man es weit und groß betrachtet. Auch wenn es nicht immer Blumen sind, in denen sie aus ihrem Todesschlaf erwachen. Aber davon wollen wir heute nicht sprechen.“

„O, ich bin glücklich“, rief Maja.

„So hast du keinen Wunsch?“ fragte der Elf. „Weißt du denn nicht, daß du das erste Wesen bist, das mir begegnet und daß ich deinen liebsten Wunsch erfüllen soll?“

„Ich?“ rief Maja, „aber ich bin doch nur eine Biene. Nein, das ist zuviel Freude für mich, ich habe nicht verdient, daß man so gut gegen mich ist.“

„Niemand verdient das Gute und Schöne,“ sagte der Elf, „es kommt zu uns wie der Sonnenschein.“

Majas Herz klopfte stürmisch. O, sie hatte seit lange einen heißen Wunsch, aber sie wagte es nicht, ihn vorzubringen. Aber der Elf schien es zu ahnen, denn er lächelte so, daß man ihm nichts verschweigen konnte.

„Nun?“ fragte er und strich sich das goldene Haar aus der reinen Stirn.

„Ich möchte die Menschen kennenlernen, wie sie am schönsten sind“, sagte die kleine Biene heiß und rasch und fürchtete, sie würde hören, daß man einen so großen Wunsch nicht erfüllen könnte.

Aber der Elf erhob sich ernst und ruhig, und seine Augen bekamen einen Glanz von Zuversicht, er nahm die zitternde Hand der kleinen Maja und sagte:

„Komm, wir fliegen zusammen, dein Wunsch soll in Erfüllung gehen.“


Downloads