Ach, wie froh hatte dieser Tag begonnen, und wie voller Angst und Schrecken sollte er enden. Maja hatte zuvor noch eine sehr merkwĂźrdige Bekanntschaft gemacht, es war am Nachmittag gewesen, in der Nähe einer groĂen alten Wassertonne. Sie saĂ in den duftenden HolunderblĂźten, die sich in der stillen, schwarzen Wasserfläche der Tonne spiegelten. Ăber ihr sang ein Rotkehlchen so lieblich und froh, daĂ die kleine Maja es gradezu trostlos fand, daĂ man sich mit den VĂśgeln nicht befreunden konnte. Sie waren zu groĂ und fraĂen einen auf, das war die Sache. Sie hatte sich in der weiĂen BlĂźtendolde des Holunder versteckt und lauschte und blinzelte dabei mit den Augen, so daĂ der Sonnenschein ihr spitze Pfeile schickte, als neben ihr jemand seufzte. Als sie sich umdrehte, sah sie das sonderbarste Tier, das ihr jemals begegnet war. Auf den ersten Blick glaubte sie, daĂ es mindestens hundert Beine an jeder Seite hatte. Es war wohl dreimal so 140lang wie sie selbst, aber schmal und niedrig und ohne FlĂźgel.
âHimmel noch mal!â rief Maja ganz erschrocken, âSie mĂźssen aber laufen kĂśnnen.â
Der Fremde sah sie nachdenklich an.
âIch zweifle daran,â meinte er, âes kĂśnnte besser sein. Ich habe zu viele Beine. Wissen Sie, ehe man sie alle bewegt hat, vergeht zu viel Zeit. Es gab Zeiten, in denen ich das nicht gewuĂt habe, da ist mir oft der Wunsch gekommen, ich hätte ein paar Beine mehr. Aber wie Gott will. Wer sind denn Sie?â
Maja stellte sich vor.
Der andere nickte und bewegte einige Beine.
âIch bin Hieronymus,â sagte er, âvon der Familie der TausendfĂźĂler. Wir sind ein altes Geschlecht und erregen Ăźberall Bewunderung. Es gibt keine Tiere, die annähernd unsere Beinzahl aufzuweisen haben. Acht ist das HĂśchste bei den andern, soviel ich weiĂ.â
âSie sind fabelhaft interessant,â sagte die kleine Maja, âund sehr eigenartig in der Farbe. Haben Sie Familie?â
âAber nein! Wieso denn?â fragte der TausendfĂźĂler. âWohin sollte das fĂźhren? Wir kriechen aus dem Ei und damit basta. Wenn nicht einmal wir auf eigenen FĂźĂen stehen kĂśnnten, wer sollte es dann kĂśnnen?â
âDas ist ja richtig,â meinte Maja nachdenklich, âaber haben Sie gar keinen AnschluĂ?â
âNein, meine Gute. Ich ernähre mich und zweifle.â
141âAch, woran zweifeln Sie denn?â
âEs ist mir angeboren,â entgegnete der Fremde, âich muĂ immer zweifeln.â
Maja sah ihn mit groĂen, erstaunten Augen an. Sie verstand nicht, wie er das meinte, und wollte doch nicht allzu neugierig in seine Angelegenheiten eindringen.
âIch zweifle daran,â sagte nach einer Weile Hieronymus, âdaĂ Sie sich hier einen gĂźnstigen Ort zum Aufenthalt ausgesucht haben. Wissen Sie nicht, was drĂźben in der groĂen Weide liegt?â
âNein.â
âSehen Sie, ich habe gleich bezweifelt, daĂ Sie es wissen. Dort liegt die Hornissenstadt.â
Maja wäre fast von der BlĂźtendolde gefallen, so furchtbar erschrak sie. Sie wurde totenblaĂ, und zitternd fragte sie, wo die Stadt läge.
âSehen Sie dort den alten Starenkasten im GebĂźsch am Stamm der Weide? Er ist so ungeschickt angebracht, daĂ ich gleich daran gezweifelt habe, daĂ er jemals von Staren bezogen wird. Wenn so ein Kasten nicht gegen Sonnenaufgang geĂśffnet ist, besinnt sich jeder anständige Vogel, ehe er einzieht. Die Hornissen haben nun darin ihre Stadt angelegt und befestigt. Es ist die grĂśĂte Hornissenburg im Land. Das sollten Sie eigentlich wissen, denn soviel ich beobachtet habe, stellen diese Räuber euch Bienen nach.â
Maja hĂśrte kaum noch zu. Sie unterschied deutlich die braunen Mauern der Burg im GrĂźn, und ihr Atem stockte.
142âIch muĂ fort,â rief sie, âso rasch als mĂśglich.â
Aber da klang hinter ihr ein lautes, bÜses Lachen, und gleich darauf fßhlte die kleine Maja sich so energisch am Kragen gepackt, daà sie meinte, ihr Genick sei gebrochen. Nie in ihrem Leben hat sie dies Lachen vergessen kÜnnen. Es klang wie ein Hohngelächter aus der Finsternis, und ein grauenerregendes Klirren von einem Panzer mischte sich hinein.
Hieronymus lieĂ sich mit allen seinen Beinen zugleich los und purzelte durch die Zweige in die Wassertonne.
âIch zweifle daran, daĂ es gut gehtâ, rief er, aber das hĂśrte die arme kleine Biene nicht mehr.
Sie konnte sich anfangs kaum umkehren, so fest wurde sie gehalten. Sie sah einen goldgepanzerten Arm und dann plĂśtzlich Ăźber sich einen ungeheuren Kopf mit fĂźrchterlichen Zangen. Zuerst glaubte sie, es sei eine riesengroĂe Wespe, aber dann erkannte sie, daĂ sie sich in den Fängen einer Hornisse befand. Das schwarz und gelb getigerte Ungeheuer war wohl viermal so groĂ wie sie selbst.
Endlich lĂśste sich ihre Stimme, und sie schrie so laut um Hilfe, als sie konnte.
âLaĂ doch, Kerlchenâ, meinte die Hornisse mit einer ganz unausstehlichen Freundlichkeit und lächelte Maja bĂśse an. âEs dauert nur so lange, bis es vorĂźber ist.â
âLassen Sie mich los,â schrie Maja, âoder ich steche Sie ins Herz.â
143âGleich ins Herz?â lachte der Räuber, âdas ist ja sehr mutig. Aber es hat noch Zeit, meine Kleine.â
Maja geriet in furchtbare Wut. Mit Aufwendung aller ihrer Kräfte drehte sie sich herum, stieà ihren hellen, hohen Kampfruf aus und richtete ihren Stachel der Hornisse mitten auf die Brust. Aber da geschah das angsterregende Wunder, daà ihr Stachel sich umbog, ohne einzudringen. Er prallte am Panzer des Räubers ab.
Die Augen der Hornisse funkelten vor Zorn.
âIch kĂśnnte dir jetzt deinen Kopf abbeiĂen, Kleine, um dich fĂźr diese Unverschämtheit zu strafen,â sagte sie grimmig, âund ich wĂźrde es auch tun, wenn die KĂśnigin nicht lieber frische Biene äĂe, als tote Biene. So einen fetten Bissen, wie du es bist, bringt man der KĂśnigin, wenn man ein guter Soldat ist.â
Und sie flog mit Maja in die Luft empor und grade auf die Räuberburg zu.
Nein, das ist zuviel, dachte die arme Biene, das hält niemand aus. Und sie verlor die Besinnung.
Als sie nach längerer Zeit aus ihrer Betäubung erwachte war es um sie her schwßl und dämmerig, und die Luft war von einem scharfen durchdringenden Geruch erfßllt, der ihr schrecklicher erschien, als alles was sie kannte. Langsam besann sie sich, und eine lähmende Traurigkeit sank in ihr Herz. Sie wollte weinen und konnte nicht.
144âNoch bin ich nicht gefressen,â sagte sie zitternd, âaber es kann jeden Augenblick stattfinden.â
Durch die Wände ihres Kerkers vernahm sie deutlich Stimmen. Nun sah sie auch, daĂ ein wenig Licht durch eine schmale Spalte fiel. Die Hornissen bauten ihre Mauern nicht aus Wachs, wie die Bienen, sondern aus einer trockenen Masse, die wie lockeres graues Papier aussah. Im schmalen Lichtstreifen, der in ihren Kerker drang, erkannte sie nun auch langsam ihre Umgebung, und sie erstarrte beinahe vor Schreck, als sie rings umher Tote liegen sah. Grade zu ihren FĂźĂen lag ein kleiner Rosenkäfer auf dem RĂźcken, und etwas weiter zur Seite erkannte sie das GerĂźst eines groĂen Laufkäfers, zur Hälfte durchbrochen, und Ăźberall lagen FlĂźgel und Panzerdecken hingemordeter Bienen.
âAch, daĂ mir dies geschehn muĂteâ, wimmerte die kleine Maja. Sie wagte sich nicht mehr zu rĂźhren und preĂte sich frierend vor Entsetzen und Angst in die äuĂerste Ecke der schrecklichen Kammer.
Da hĂśrte sie durch die Wand wieder deutlich die Stimmen der Hornissen, und von Todesangst getrieben kroch sie an den kleinen Spalt und schaute hindurch.
Da sah sie einen groĂen Saal, der ganz mit Hornissen angefĂźllt war und der von einer groĂen Anzahl von gefangenen GlĂźhkäfern auf das prächtigste erleuchtet wurde. Auf einem Thron inmitten der Ihren saĂ die KĂśnigin. Es schien eine wichtige Beratung stattzufinden, Maja verstand jedes Wort.
145Wenn ihr nur diese glitzernden Ungeheuer nicht solch unsägliches Entsetzen eingeflĂśĂt hätten, sie wĂźrde sicher Ăźber ihre Kraft und Pracht in EntzĂźcken geraten sein. Zum erstenmal erkannte sie jetzt deutlich, wie die Räuber aussahen. Mit Staunen und Zittern sah sie den Prunk der goldenen Panzer, die den ganzen Leib hinunter mit herrlichen schwarzen Schienen verziert waren, so daĂ man einen Eindruck von ihnen hatte, wie wohl ein Kind ihn haben mag, das zum erstenmal einen Tiger erblickt.
Ein Wächter ging an den Wänden des Saals umher und forderte die Glßhkäfer auf, aus Leibeskräften zu leuchten. Er tat es leise und drohend, um die Beratung nicht zu stÜren, stieà mit einer langen Stange nach ihnen und zischte jedesmal.
âLeuchte, sonst freĂ ich dich!â
Es war ganz fĂźrchterlich, wie es in der Hornissenburg zuging.
Da hĂśrte Maja die HornissenkĂśnigin sagen:
âAlso bleibt es bei unserer Abmachung: Morgen, eine Stunde vor Sonnenaufgang, versammeln sich die Krieger. Die Stadt der Bienen im SchloĂpark wird Ăźberfallen. Der Stock wird ausgeraubt und mĂśglichst viele Gefangene werden gemacht. Wer Helene die Achte, die BienenkĂśnigin, gefangennimmt und mir lebendig Ăźberliefert, wird in den Ritterstand erhoben. Haltet euch tapfer und bringt mir gute Beute heim. Und hiermit hebe ich die Versammlung auf. Begebt euch zur Ruhe!â
Sie erhob sich nach diesen Worten und verlieĂ mit ihrem Gefolge den Saal.
Die kleine Maja hätte beinahe laut aufgeweint.
âMein Volk,â schluchzte sie, âmeine Heimat!â Sie preĂte ihre Hände in den Mund, um nicht zu schreien, ihre Verzweiflung war grenzenlos. âAch, wäre ich gestorben, ehe ich dies hĂśren muĂteâ, wimmerte sie. âNiemand wird die Meinen warnen. Sie werden im Schlaf Ăźberfallen und ermordet. O lieber Gott, tu ein Wunder, hilf mir, hilf mir und meinem Volk aus unserer Not.â
Im Saal wurden die Glßhkäferchen ausgelÜscht und aufgefressen. Es wurde langsam still in der Burg. An Maja schien niemand mehr zu denken.
Langsam kam ein schwaches Dämmerlicht in ihrem Kerker auf, und ihr war, als klänge von auĂen her das Nachtlied der Grillen. Nie war der Biene etwas furchtbarer erschienen, als dies BurgverlieĂ mit seinen Totengerippen.