Die Biene Maja und ihre Abenteuer: Die Räuberburg (13/17)

Ach, wie froh hatte dieser Tag begonnen, und wie voller Angst und Schrecken sollte er enden. Maja hatte zuvor noch eine sehr merkwürdige Bekanntschaft gemacht, es war am Nachmittag gewesen, in der Nähe einer großen alten Wassertonne. Sie saß in den duftenden Holunderblüten, die sich in der stillen, schwarzen Wasserfläche der Tonne spiegelten. Über ihr sang ein Rotkehlchen so lieblich und froh, daß die kleine Maja es gradezu trostlos fand, daß man sich mit den Vögeln nicht befreunden konnte. Sie waren zu groß und fraßen einen auf, das war die Sache. Sie hatte sich in der weißen Blütendolde des Holunder versteckt und lauschte und blinzelte dabei mit den Augen, so daß der Sonnenschein ihr spitze Pfeile schickte, als neben ihr jemand seufzte. Als sie sich umdrehte, sah sie das sonderbarste Tier, das ihr jemals begegnet war. Auf den ersten Blick glaubte sie, daß es mindestens hundert Beine an jeder Seite hatte. Es war wohl dreimal so 140lang wie sie selbst, aber schmal und niedrig und ohne Flügel.

„Himmel noch mal!“ rief Maja ganz erschrocken, „Sie müssen aber laufen können.“

Der Fremde sah sie nachdenklich an.

„Ich zweifle daran,“ meinte er, „es könnte besser sein. Ich habe zu viele Beine. Wissen Sie, ehe man sie alle bewegt hat, vergeht zu viel Zeit. Es gab Zeiten, in denen ich das nicht gewußt habe, da ist mir oft der Wunsch gekommen, ich hätte ein paar Beine mehr. Aber wie Gott will. Wer sind denn Sie?“

Maja stellte sich vor.

Der andere nickte und bewegte einige Beine.

„Ich bin Hieronymus,“ sagte er, „von der Familie der Tausendfüßler. Wir sind ein altes Geschlecht und erregen überall Bewunderung. Es gibt keine Tiere, die annähernd unsere Beinzahl aufzuweisen haben. Acht ist das Höchste bei den andern, soviel ich weiß.“

„Sie sind fabelhaft interessant,“ sagte die kleine Maja, „und sehr eigenartig in der Farbe. Haben Sie Familie?“

„Aber nein! Wieso denn?“ fragte der Tausendfüßler. „Wohin sollte das führen? Wir kriechen aus dem Ei und damit basta. Wenn nicht einmal wir auf eigenen Füßen stehen könnten, wer sollte es dann können?“

„Das ist ja richtig,“ meinte Maja nachdenklich, „aber haben Sie gar keinen Anschluß?“

„Nein, meine Gute. Ich ernähre mich und zweifle.“

141„Ach, woran zweifeln Sie denn?“

„Es ist mir angeboren,“ entgegnete der Fremde, „ich muß immer zweifeln.“

Maja sah ihn mit großen, erstaunten Augen an. Sie verstand nicht, wie er das meinte, und wollte doch nicht allzu neugierig in seine Angelegenheiten eindringen.

„Ich zweifle daran,“ sagte nach einer Weile Hieronymus, „daß Sie sich hier einen günstigen Ort zum Aufenthalt ausgesucht haben. Wissen Sie nicht, was drüben in der großen Weide liegt?“

„Nein.“

„Sehen Sie, ich habe gleich bezweifelt, daß Sie es wissen. Dort liegt die Hornissenstadt.“

Maja wäre fast von der Blütendolde gefallen, so furchtbar erschrak sie. Sie wurde totenblaß, und zitternd fragte sie, wo die Stadt läge.

„Sehen Sie dort den alten Starenkasten im Gebüsch am Stamm der Weide? Er ist so ungeschickt angebracht, daß ich gleich daran gezweifelt habe, daß er jemals von Staren bezogen wird. Wenn so ein Kasten nicht gegen Sonnenaufgang geöffnet ist, besinnt sich jeder anständige Vogel, ehe er einzieht. Die Hornissen haben nun darin ihre Stadt angelegt und befestigt. Es ist die größte Hornissenburg im Land. Das sollten Sie eigentlich wissen, denn soviel ich beobachtet habe, stellen diese Räuber euch Bienen nach.“

Maja hĂśrte kaum noch zu. Sie unterschied deutlich die braunen Mauern der Burg im GrĂźn, und ihr Atem stockte.

142„Ich muß fort,“ rief sie, „so rasch als möglich.“

Aber da klang hinter ihr ein lautes, böses Lachen, und gleich darauf fühlte die kleine Maja sich so energisch am Kragen gepackt, daß sie meinte, ihr Genick sei gebrochen. Nie in ihrem Leben hat sie dies Lachen vergessen können. Es klang wie ein Hohngelächter aus der Finsternis, und ein grauenerregendes Klirren von einem Panzer mischte sich hinein.

Hieronymus ließ sich mit allen seinen Beinen zugleich los und purzelte durch die Zweige in die Wassertonne.

„Ich zweifle daran, daß es gut geht“, rief er, aber das hörte die arme kleine Biene nicht mehr.

Sie konnte sich anfangs kaum umkehren, so fest wurde sie gehalten. Sie sah einen goldgepanzerten Arm und dann plötzlich über sich einen ungeheuren Kopf mit fürchterlichen Zangen. Zuerst glaubte sie, es sei eine riesengroße Wespe, aber dann erkannte sie, daß sie sich in den Fängen einer Hornisse befand. Das schwarz und gelb getigerte Ungeheuer war wohl viermal so groß wie sie selbst.

Endlich lĂśste sich ihre Stimme, und sie schrie so laut um Hilfe, als sie konnte.

„Laß doch, Kerlchen“, meinte die Hornisse mit einer ganz unausstehlichen Freundlichkeit und lächelte Maja böse an. „Es dauert nur so lange, bis es vorüber ist.“

„Lassen Sie mich los,“ schrie Maja, „oder ich steche Sie ins Herz.“

143„Gleich ins Herz?“ lachte der Räuber, „das ist ja sehr mutig. Aber es hat noch Zeit, meine Kleine.“

Maja geriet in furchtbare Wut. Mit Aufwendung aller ihrer Kräfte drehte sie sich herum, stieß ihren hellen, hohen Kampfruf aus und richtete ihren Stachel der Hornisse mitten auf die Brust. Aber da geschah das angsterregende Wunder, daß ihr Stachel sich umbog, ohne einzudringen. Er prallte am Panzer des Räubers ab.

Die Augen der Hornisse funkelten vor Zorn.

„Ich könnte dir jetzt deinen Kopf abbeißen, Kleine, um dich für diese Unverschämtheit zu strafen,“ sagte sie grimmig, „und ich würde es auch tun, wenn die Königin nicht lieber frische Biene äße, als tote Biene. So einen fetten Bissen, wie du es bist, bringt man der Königin, wenn man ein guter Soldat ist.“

Und sie flog mit Maja in die Luft empor und grade auf die Räuberburg zu.

Nein, das ist zuviel, dachte die arme Biene, das hält niemand aus. Und sie verlor die Besinnung.

Als sie nach längerer Zeit aus ihrer Betäubung erwachte war es um sie her schwßl und dämmerig, und die Luft war von einem scharfen durchdringenden Geruch erfßllt, der ihr schrecklicher erschien, als alles was sie kannte. Langsam besann sie sich, und eine lähmende Traurigkeit sank in ihr Herz. Sie wollte weinen und konnte nicht.

144„Noch bin ich nicht gefressen,“ sagte sie zitternd, „aber es kann jeden Augenblick stattfinden.“

Durch die Wände ihres Kerkers vernahm sie deutlich Stimmen. Nun sah sie auch, daß ein wenig Licht durch eine schmale Spalte fiel. Die Hornissen bauten ihre Mauern nicht aus Wachs, wie die Bienen, sondern aus einer trockenen Masse, die wie lockeres graues Papier aussah. Im schmalen Lichtstreifen, der in ihren Kerker drang, erkannte sie nun auch langsam ihre Umgebung, und sie erstarrte beinahe vor Schreck, als sie rings umher Tote liegen sah. Grade zu ihren Füßen lag ein kleiner Rosenkäfer auf dem Rücken, und etwas weiter zur Seite erkannte sie das Gerüst eines großen Laufkäfers, zur Hälfte durchbrochen, und überall lagen Flügel und Panzerdecken hingemordeter Bienen.

„Ach, daß mir dies geschehn mußte“, wimmerte die kleine Maja. Sie wagte sich nicht mehr zu rühren und preßte sich frierend vor Entsetzen und Angst in die äußerste Ecke der schrecklichen Kammer.

Da hĂśrte sie durch die Wand wieder deutlich die Stimmen der Hornissen, und von Todesangst getrieben kroch sie an den kleinen Spalt und schaute hindurch.

Da sah sie einen großen Saal, der ganz mit Hornissen angefüllt war und der von einer großen Anzahl von gefangenen Glühkäfern auf das prächtigste erleuchtet wurde. Auf einem Thron inmitten der Ihren saß die Königin. Es schien eine wichtige Beratung stattzufinden, Maja verstand jedes Wort.

145Wenn ihr nur diese glitzernden Ungeheuer nicht solch unsägliches Entsetzen eingeflößt hätten, sie würde sicher über ihre Kraft und Pracht in Entzücken geraten sein. Zum erstenmal erkannte sie jetzt deutlich, wie die Räuber aussahen. Mit Staunen und Zittern sah sie den Prunk der goldenen Panzer, die den ganzen Leib hinunter mit herrlichen schwarzen Schienen verziert waren, so daß man einen Eindruck von ihnen hatte, wie wohl ein Kind ihn haben mag, das zum erstenmal einen Tiger erblickt.

Ein Wächter ging an den Wänden des Saals umher und forderte die Glühkäfer auf, aus Leibeskräften zu leuchten. Er tat es leise und drohend, um die Beratung nicht zu stören, stieß mit einer langen Stange nach ihnen und zischte jedesmal.

„Leuchte, sonst freß ich dich!“

Es war ganz fĂźrchterlich, wie es in der Hornissenburg zuging.

Da hĂśrte Maja die HornissenkĂśnigin sagen:

„Also bleibt es bei unserer Abmachung: Morgen, eine Stunde vor Sonnenaufgang, versammeln sich die Krieger. Die Stadt der Bienen im Schloßpark wird überfallen. Der Stock wird ausgeraubt und möglichst viele Gefangene werden gemacht. Wer Helene die Achte, die Bienenkönigin, gefangennimmt und mir lebendig überliefert, wird in den Ritterstand erhoben. Haltet euch tapfer und bringt mir gute Beute heim. Und hiermit hebe ich die Versammlung auf. Begebt euch zur Ruhe!“

Sie erhob sich nach diesen Worten und verließ mit ihrem Gefolge den Saal.

Die kleine Maja hätte beinahe laut aufgeweint.

„Mein Volk,“ schluchzte sie, „meine Heimat!“ Sie preßte ihre Hände in den Mund, um nicht zu schreien, ihre Verzweiflung war grenzenlos. „Ach, wäre ich gestorben, ehe ich dies hören mußte“, wimmerte sie. „Niemand wird die Meinen warnen. Sie werden im Schlaf überfallen und ermordet. O lieber Gott, tu ein Wunder, hilf mir, hilf mir und meinem Volk aus unserer Not.“

Im Saal wurden die Glßhkäferchen ausgelÜscht und aufgefressen. Es wurde langsam still in der Burg. An Maja schien niemand mehr zu denken.

Langsam kam ein schwaches Dämmerlicht in ihrem Kerker auf, und ihr war, als klänge von außen her das Nachtlied der Grillen. Nie war der Biene etwas furchtbarer erschienen, als dies Burgverließ mit seinen Totengerippen.


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