Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde: Henry Jekylls vollständiger Bericht über den Fall (10/10)

Ich wurde geboren im Jahre 18.. als Erbe eines großen Vermögens; ich besaß außerdem vortreffliche Anlagen, war von Natur fleißig, begierig nach der Achtung der Weisen und Guten unter meinen Mitmenschen, und so war mir, hätte man annehmen sollen, jede Gewähr einer ehrenvollen, ausgezeichneten Laufbahn gegeben. In der Tat war der schlimmste meiner Fehler nur eine gewisse ungeduldige Lebenslust, wie sie manchen Menschen glücklich gemacht hat, die ich aber schwer mit meinem gebieterischen Wunsch zu vereinbaren fand, meinen Kopf hoch zu tragen und vor der Welt als ein ungewöhnlich ernster Mann zu erscheinen. So kam es, daß ich meine Vergnügungen verheimlichte; und als ich in die Jahre des Nachdenkens kam, um mich zu blicken begann und mir über meine Fortschritte und meine Stellung in der Welt Rechenschaft ablegte, da fand ich, daß ich bereits tief in ein Doppelleben verstrickt war. Mancher Mensch würde mit solchen Ausschweifungen, wie ich sie mir habe zuschulden kommen lassen, sogar sich gebrüstet haben; aber in Anbetracht der hohen Ziele, die ich mir gesteckt hatte, verbarg ich sie mit einem fast krankhaften Schamgefühl.

So war es wohl mehr die hochfliegende Art meines Strebens, als eine besondere Niedrigkeit meiner Fehler, die mich zu dem machten, was ich war, und durch eine tiefere Kluft, als bei der Mehrheit der Menschen, in mir die Bereiche des Guten und des Bösen schied, die die zwiefache Natur des Menschen teilen und verbinden. In dieser meiner Lage wurde ich dazu getrieben, tief und anhaltend über jenes harte Gesetz des Lebens nachzudenken, das eine der Wurzeln der Religion bildet und eine der reichlichst fließenden Quellen von Angst und Pein ist. Ich war eine ausgesprochene Doppelnatur, aber durchaus kein Heuchler; beide Seiten meines Wesens waren vollkommen ernst gemeint und aufrichtig: ich war genau so ich selber, wenn ich alle Zurückhaltung fahren ließ und mich in Sünden wälzte, wie wenn ich vor den Augen der Welt an der Förderung des Wissens arbeitete, oder Sorgen und Leiden milderte. Und es fügte sich so, daß die Richtung meiner wissenschaftlichen Studien, die ganz und gar auf das Mystische und Transzendentale hinarbeiteten, rückwirkte und mein Bewußtsein des ewigen Kampfes innerhalb meiner körperlichen Gestaltung in ein helles Licht setzte. Mit jedem Tage und von beiden Seiten meiner Geistigkeit, der moralischen und der verstandesmäßigen, näherte ich mich unentwegt jener Wahrheit, deren leider nur unvollständige Entdeckung mich zu einem so furchtbaren Zusammenbruch verurteilte: der Wahrheit, daß der Mensch nicht ein Mensch ist, sondern in Wirklichkeit aus zwei Menschen besteht. Ich sage: zwei, weil der Stand meines eigenen Wissens nicht hierüber hinausreicht. Andere Forscher werden mir folgen, andere werden auf demselben Wege weiterkommen als ich, und ich wage zu vermuten, daß man schließlich wissen wird: der einzelne Mensch ist weiter nichts als eine Gemeinde von mannigfaltigen, ungleichartigen und unabhängigen Bürgern.

Ich selber, so lag es in der Natur meines Lebens, machte unwandelbare Fortschritte in einer Richtung und nur in dieser einen. Auf der moralischen Seite und an meiner eigenen Person lernte ich die gründliche und ureigene Dualität des Menschen erkennen. Ich sah, daß, wenn man mit Recht von mir sagen konnte, ich sei eine von den beiden Naturen, die auf dem Felde meines Bewußtseins sich bekämpften, dies nur deshalb war, weil beide Naturen die Wurzel meines Lebens bildeten. Und schon früh, lange bevor der Verlauf meiner wissenschaftlichen Entdeckungen mich die nackte Wirklichkeit eines solchen Wunders ahnen zu lassen begann, hatte ich oft mit Vergnügen bei dem Gedanken einer Scheidung dieser Elemente verweilt, wie bei einem lieben Traum im Wachen. Wenn nur, so sagte ich mir selber, jede von diesen Naturen in getrennten körperlichen Einheiten untergebracht werden könnte, würde das Leben von allem Unerträglichen erleichtert sein: Der Ungerechte könnte seiner Wege gehen, befreit von Bestrebungen der Gewissensbisse, seines ehrlicheren Zwillingsbruders – und der Gerechte könnte standhaft und sicher seinen Pfad zum Himmel emporgehen, das Gute tun, woran er seine Freude fände, und würde nicht länger von Schande und Reue durch das außerhalb seines Ich liegende Böse bedroht sein. Es war der Fluch der Menschheit, daß diese nicht zueinander passenden Bestandteile auf solche Weise zusammengeschnürt waren – daß in dem von Schmerzen gepeinigten Mutterleib des Bewußtseins diese Gegenpol-Zwillinge unaufhörlich miteinander kämpfen mußten. Wie sollten sie denn nun voneinander getrennt werden?

So weit war ich in meinen Gedankengängen gekommen, als vom Experimentiertisch, wie ich bereits sagte, ein Seitenlicht auf diesen Gegenstand zu strahlen begann. Ich begann tiefer in diese Frage einzudringen, als alle Forscher, die bis jetzt darüber etwas veröffentlicht haben, und bemerkte die zitternde Unkörperlichkeit, den nebelgleichen Übergangszustand dieses scheinbar so gediegenen Körpers, in welchem eingehüllt wir durch die Welt gehen. Ich fand, daß gewisse Triebkräfte die Macht haben, dieses fleischliche Kleid zu erschüttern und abzustreifen, wie etwa ein Windstoß die Leinwandbahnen eines Zeltes hin und her wirft.

Aus zwei guten Gründen will ich nicht tiefer auf diese wissenschaftliche Seite meiner Beichte eingehen:

Erstens, weil ich habe erfahren müssen, daß der Fluch und die Bürde des Lebens dem Menschen für ewig auf die Schultern gelegt ist, und daß der Versuch, diese abzuschütteln, vergeblich ist, da sie sich immer wieder auf uns legt, nur unbequemer und drückender.

Zweitens, weil aus meiner Erzählung leider nur zu deutlich hervorgehen wird, daß meine Entdeckungen unvollständig waren.

Genug also: Ich erkannte nicht nur, daß mein natürlicher Leib weiter nichts als ein Dunstkreis und eine Ausstrahlung einiger von den Kräften ist, aus denen mein Geist zusammengesetzt ist, sondern es gelang mir auch, einen Trank zu mischen, durch den diese Kräfte, die bisher die Oberherrschaft gehabt hatten, entthront werden konnten, so daß an ihre Stelle eine zweite Form und äußere Gestalt trat, die nicht weniger meine eigene Natur waren, denn sie waren der Ausdruck und trugen den Stempel niedrigerer Elemente in meiner Seele.

Ich zögerte lange, bis ich diese Theorie auf die Probe eines praktischen Versuches stellte. Ich wußte wohl, daß ich mein Leben wagte; denn ein Trank, der die eigentliche Zitadelle meiner Wesenheit so machtvoll beherrschte und erschütterte, konnte durch ein allergeringstes Zuviel eines seiner Bestandteile oder durch das geringste Versehen im Augenblick der Anwendung das unkörperliche Sakramentshaus, dessen Veränderung ich von ihm erwartete, gänzlich zerstören. Aber die Versuchung, eine so eigenartige und tiefwirkende Entdeckung zu machen, war schließlich stärker als die Einreden meiner Furcht. Ich hatte meine Tinktur längst zusammengestellt; ich kaufte von einer Großhandlung für Apothekerwaren eine bedeutende Menge eines gewissen Salzes, das, wie ich von meinen Versuchen wußte, der letzte erforderliche Bestandteil war. Und in später Stunde einer verfluchten Nacht mischte ich die Elemente, sah sie im Glase sprudeln und rauchen, und als das Sprudeln aufgehört hatte, erblühte ich von einem starken Mut, und ich trank.

Es folgten entsetzlich folternde Schmerzen: ein Schroten in den Knochen, eine tödliche Übelkeit und ein Grausen des Geistes, wie es in der Stunde der Geburt oder des Todes nicht ärger sein kann. Aber schnell ließen die Schmerzen nach, und ich kam wieder zu mir selber, wie wenn ich von einer schweren Krankheit genesen wäre. Es war etwas Seltsames in meinem Empfinden, etwas unbeschreiblich Neues und eben wegen seiner Neuheit unglaublich Süßes. Ich fühlte mich körperlich jünger, leichter, glücklicher; in meinem Inneren war ich mir einer stürmischen Sorglosigkeit bewußt; eine Flucht ungeordneter wollüstiger Bilder rann wie ein Mühlbach durch meine Phantasie; ich fühlte mich von den Banden der Pflicht befreit; ich empfand eine unbekannte, aber nicht unschuldige Freiheit der Seele. Mit dem ersten Atemzug, den ich in diesem neuen Leben tat, wußte ich, daß ich sündhafter, zehnfach sündhafter sei: ein Sklave des Urbösen in mir; und dieser Gedanke erfrischte und entzückte mich in diesem Augenblick wie Wein. Frohlockend über die Frische dieser Empfindungen, streckte ich meine Hände aus; und wie ich dies tat, bemerkte ich plötzlich, daß ich an Körpergröße verloren hatte.

In meinem Zimmer war damals kein Spiegel; der Spiegel, der in diesem Augenblick, da ich schreibe, neben mir steht, wurde erst später aufgestellt, und zwar gerade zu dem Zwecke dieser Verwandlung. Die Nacht war fast schon Morgen geworden – der Morgen, schwarz und finster noch, war fast reif schon die Geburt des Tages – die Insassen meines Hauses lagen zu dieser Stunde im festesten Schlaf; und in meiner überschwellenden Hoffnung und Siegesfreudigkeit beschloß ich das Wagnis, in meiner neuen Gestalt in mein Schlafzimmer zu gehen. Ich ging über den Hof, wo die Sternbilder, ich hätte sagen mögen, um meine Gedanken auszusprechen: mit Verwunderung auf mich herniederblickten, das erste Geschöpf dieser Art, das ihre niemals schlafende Wachsamkeit ihnen gezeigt hatte; ich schlich durch die Korridore, ein Fremdling in meinem eigenen Haus; und als ich in mein Zimmer trat, sah ich zum erstenmal die Gestalt von Edward Hyde.

Was ich jetzt sage, ist nur Theorie; ich sage nicht etwas, das ich weiß, sondern was nach meiner Annahme höchst wahrscheinlich ist. Der böse Teil meiner Natur, den ich jetzt verkörpert hatte, war weniger kräftig und weniger entwickelt wie der gute Teil, den ich soeben abgelegt hatte. Im Laufe meines Lebens, von dem doch neun Zehntel ein Leben voll Arbeit, Tugend und Selbstbeherrschung gewesen waren, war das Böse viel weniger geübt, aber auch viel weniger ermüdet worden. Und daher kam es, wie ich glaube, daß Edward Hyde so viel kleiner, leichter und jünger als Henry Jekyll war. Ebenso wie aus dem Antlitz des Einen das Gute strahlte, stand auf dem Antlitz des Anderen klar und deutlich das Böse geschrieben. Außerdem hatte das Böse – das ich immer noch für den sterblichen Teil des Menschen halten muß – diesem Körper einen Stempel von Mißgestalt und Verfall aufgedrückt. Und doch, als ich dieses häßliche Götzenbild im Spiegel sah, empfand ich keinen Widerwillen, sondern eher ein Gefühl freudiger Begrüßung. Auch diese Gestalt war ich. Sie erschien mir natürlich und menschlich. In meinen Augen war sie ein lebendigeres Abbild des Geistes; sie schien ausdrucksvoller und eigenartiger zu sein, als die unvollkommene, zwiespältige Menschengestalt, die ich bis dahin gewöhnt gewesen war, die meinige zu nennen. Und insofern hatte ich zweifellos recht. Ich habe bemerkt, daß niemand, wenn ich die Gestalt von Edward Hyde trug, anfangs sich mir nähern konnte ohne eine sichtbare böse Ahnung des Fleisches. Dies geschah nach meiner Auffassung deshalb, weil alle menschlichen Wesen, wie wir sie treffen, aus Gutem und Bösem gemischt sind, und Edward Hyde allein in den Reihen der Menschheit war Unvermischt-Böses.

Ich verweilte nur einen Augenblick vor dem Spiegel: das zweite und entscheidende Experiment mußte noch unternommen werden; es war noch festzustellen, ob ich meine Identität unwiderruflich verloren hätte und vor Tagesanbruch außer dem Hause fliehen müßte, das nicht länger das meinige wäre. Ich eilte in mein Arbeitszimmer zurück, mischte wieder den Trank und schlürfte ihn ein, erlitt wieder die Schmerzen der Auflösung und kam wieder zu mir selber mit dem Charakter, der Gestalt und dem Antlitz Henry Jekylls.

In jener Nacht war ich an den verhängnisvollen Kreuzweg gekommen. Wäre ich an meine Entdeckung in einem edleren Geist herangetreten, hätte ich den Versuch unter der Herrschaft großherziger oder frommer Bestrebungen gewagt, so hätte alles anders kommen müssen, und ich wäre aus diesen Wehen von Tod und Geburt nicht als ein Teufel, sondern als ein Engel hervorgegangen.

Die Wirkung des Tranks war wahllos: er selber war weder teuflisch noch göttlich; er sprengte nur die Türen des Gefängnisses meiner Gesinnung; und wie die Gefangenen von Philippi lief ins Freie, was drinnen war. In jenem Augenblick schlummerte meine Tugend; mein Böses, das vom Ehrgeiz wachgehalten wurde, war munter und ergriff schnell die Gelegenheit; und das Ding, das Gestalt annahm, war Edward Hyde. So war denn, obgleich ich jetzt sowohl zwei Charaktere, wie auch zwei äußere Gestalten hatte, der eine Charakter gänzlich böse, und der andere war immer noch der des alten Henry Jekyll, jene ungleiche Mischung, an deren Änderung und Besserung ich schon längst verzweifelt hatte. Die Bewegung war also gänzlich in der Richtung zum Schlimmeren erfolgt.

Zu jener Zeit hatte ich meine Abneigung gegen die Trockenheit eines Lebens gelehrter Forschung noch nicht überwunden. Noch immer war ich zu Zeiten lustig aufgelegt; und da meine Vergnügungen – um mich milde auszudrücken – nicht würdevoll waren, da ferner ich selber nicht nur wohlbekannt und hochgeachtet war, sondern auch allmählich ein ältlicher Mann wurde, so wurde mir dieser Zwiespalt in meinem Leben von Tag zu Tag lästiger. Hier führte nun meine neue Kraft mich in Versuchung, bis ich in ihre Knechtschaft geriet. Ich brauchte nur den Trank zu schlürfen, um sofort den Leib des bekannten Professors abzuwerfen und wie in einen dicken Mantel in den Leib Edward Hydes hineinzuschlüpfen. Ich lächelte über diesen Einfall; er erschien mir in jenem Augenblick humoristisch, und ich traf meine Vorbereitungen mit der allergrößten Sorgfalt. Ich mietete ein Haus in Soho und richtete es ein; jenes Haus, das die Polizei durchsuchte, als sie Hyde auf der Spur war. Ich stellte als Haushälterin eine Person an, von der ich bestimmt wußte, daß sie verschwiegen war und keine Gewissensbedenken hatte. Gleichzeitig sagte ich meiner Dienerschaft, daß ein gewisser Herr Hyde – den ich ihnen genau beschrieb – in meinem Hause am Square nach seinem Belieben aus und ein gehen, schalten und walten solle; und um Mißverständnisse auszuschließen, machte ich sogar in meiner zweiten Gestalt einen Besuch in meinem eigenen Hause, so daß meine Leute mich kannten. Sodann setzte ich jenen Letzten Willen auf, gegen den Du so viel einzuwenden hattest. Ich konnte also, wenn mir in der Gestalt des Dr. Jekyll etwas zustieß, ohne Vermögensverlust in die Gestalt Edward Hydes eintreten. Nachdem ich auf diese Weise nach allen Seiten hin, wie ich annahm, mich gesichert hatte, begann ich mir die seltsame Gefahrlosigkeit meiner Lage zunutze zu machen.

Es ist doch früher schon vorgekommen, daß Menschen Bravos dangen, um ihre Verbrechen auszuführen, während ihre eigene Person und guter Ruf in Deckung blieben. Ich war der erste Mensch, der dies tat, um seinen Lüsten nachzugehen. Ich war der erste, der dank diesem Mittel vor der Welt als ein liebenswürdiger, achtungswerter Mann sich darstellen konnte und im Nu, wie ein Schulknabe, diese erborgte Achtbarkeit abzustreifen und köpflings in das Meer der Freiheit zu springen imstande war. Aber für mich, in meinem undurchdringlichen Mantel, war die Sicherheit vollständig. Bedenke – ich war ja nicht einmal vorhanden – ich brauchte nur durch meine Laboratoriumstür zu entschlüpfen, zwei Sekunden Zeit zu haben, um den Trank zu mischen und zu verschlucken, dessen Zutaten stets bereit standen – und Edward Hyde, was auch immer er getan haben mochte, verschwand, wie ein Hauch des Atems von einem Spiegel verschwindet, und an seiner Stelle war es ruhig in seinem Heim bei der mitternächtlichen Studierlampe ein Mann, der jeden Argwohn verlachen konnte – der sogenannte Henry Jekyll. Die Lüste, die ich in gieriger Eile in meiner Verkleidung aufsuchte, waren, wie schon gesagt, unwürdig; einen härteren Ausdruck brauche ich nicht anzuwenden. Aber Edward Hyde machte aus ihnen bald Scheußlichkeiten. Wenn ich von meinen Ausflügen heimkam, ergriff mich oft eine Art von Staunen über die Verderbtheit meines zweiten Ich. Dieser Mensch, den ich aus meiner eigenen Seele ins Leben rief und ausziehen ließ, um auf eigene Hand nach seiner Laune zu handeln, war seiner Natur nach ein boshaftes Wesen und ein Schurke; jede Handlung, jeder Gedanke dieses Menschen war Selbstsucht; mit tierischer Gier schlürfte er Wollust aus jeder Art von Qualen, die er anderen bereitete; er war erbarmungslos wie ein Steinbild. Henry Jekyll stand manchmal entsetzt vor den Handlungen Edward Hydes; aber seine Lage hatte mit gewöhnlichen Gesetzen nichts zu tun – und mit diesem verfänglichen Gedanken erleichterte er sein Gewissen. Schließlich war Hyde der Schuldige, und nur Hyde allein. Jekyll war nicht böser, als er immer gewesen war; wenn er wieder seine Gestalt annahm, waren seine guten Eigenschaften allem Anschein nach unverändert; er beeilte sich sogar, wo dies möglich war, das von Hyde angerichtete Unheil wieder auszugleichen. Und so schlummerte sein Gewissen. Ich beabsichtige nicht auf die Einzelheiten der Ruchlosigkeiten einzugehen, die ich auf diese Weise geschehen ließ – denn selbst jetzt kann ich kaum zugeben, daß ich sie beging. Ich will nur über die Warnungen berichten, die ich empfing, und will schildern, wie allmählich, schrittweise, meine Bestrafung herannahte. Ich hatte ein Erlebnis, das ich hier einfach nur erwähnen will, da es keine weiteren Folgen nach sich zog. Eine Grausamkeit, die ich an einem Kinde beging, erweckte gegen mich den Zorn eines zufällig Vorübergehenden, den ich neulich in der Person deines Verwandten wiedererkannte. Der Arzt und die Angehörigen des Kindes schlossen sich ihm an; einige Augenblicke fürchtete ich für mein Leben und schließlich mußte, um ihre nur zu berechtigte Empörung zu beschwichtigen, Edward Hyde sie an meine Tür führen und sie mit einem Scheck bezahlen, der von Henry Jekyll ausgestellt war. Aber eine solche Gefahr ließ sich für die Zukunft leicht ausschließen, indem ich bei einer anderen Bank ein Guthaben auf den Namen Edward Hyde einrichtete; und als ich durch eine Veränderung meiner eigenen Handschrift meinen Doppelgänger mit einer ihm eigentümlichen Unterschrift ausgestellt hatte, glaubte ich, mich außer Reichweite des Schicksals zu befinden.

Etwa zwei Monate vor der Ermordung Sir Danvers Carews war ich wieder einmal auf Abenteuer ausgegangen, in später Stunde heimgekommen und erwachte am nächsten Morgen in meinem Bett mit etwas sonderbaren Empfindungen. Vergeblich blickte ich um mich; vergeblich sah ich die vornehme Einrichtung meines geräumigen Schlafzimmers am Square; vergeblich erkannte ich das Muster meiner Bettgardinen und die Form der Mahagonibettstelle – trotz alledem wollte das Gefühl nicht weichen, daß ich nicht dort wäre, wo ich in Wirklichkeit mich befände, daß ich nicht in meinem eigenen Schlafzimmer erwacht wäre, sondern in der kleinen Kammer in Soho, wo ich in der leiblichen Gestalt Edward Hydes zu schlafen pflegte. Ich lächelte über mich selber und begann nach meiner psychologischen Art gemächlich über die einzelnen Bestandteile dieser Einbildung nachzudenken, und während ich dies noch tat, versank ich wieder in einen behaglichen Morgenschlummer, in welchem ich weiter träumte und nachdachte. Als ich wieder etwas heller wach wurde, fiel mein Blick auf meine Hand. Nur war die Hand Henry Jekylls – wie Du oft bemerkt hast – an Form und Größe die richtige Hand eines Arztes: groß, fest, weiß und hübsch geformt. Aber die Hand, die ich jetzt deutlich genug in dem gelben Licht eines Morgens der Londoner City sah, wie sie halbgeschlossen lag, war dürr, knochig, dick geädert, von schwärzlich blasser Farbe und dicht mit schwarzen Haaren bewachsen. Es war die Hand Edward Hydes.

Ich muß fast eine halbe Minute lang diese Hand angestarrt haben, ohne ein anderes Gefühl als eine stumpfsinnige Verwunderung. Dann bekam ich einen Schreck wie bei einem plötzlichen Lärm von Pauken und Trompeten, sprang aus dem Bett und rannte vor meinen Spiegel. Bei dem Anblick, der meine Augen traf, wurde mein Blut kalt wie Eis. Ja, ich war als Henry Jekyll zu Bett gegangen und als Edward Hyde aufgewacht. Aber wie war dies zu erklären? So fragte ich mich, und dann mit einem neuen Anfall von Entsetzen, wie sollte ich mir helfen?

Es war schon ziemlich spät am Morgen; die Dienerschaft war aufgestanden; alle Bestandteile meines Tranks waren in meinem Arbeitszimmer – es war ein weiter Weg von der Stelle, auf der ich in diesem Augenblick wie vom Blitz getroffen stand, bis zu meinem Arbeitszimmer. Zwei Treppen hinunter, durch den hinteren Korridor, über den offenen Hof und durch das anatomische Theater! Allerdings war es mir wohl möglich, mein Gesicht zu bedecken; aber was nützte mir dies, da ich ja nicht imstande war, die Veränderung meiner Gestalt zu verbergen? Aber da überkam mich eine wonnige Erleichterung. Mir fiel ein, daß die Bedienten ja bereits an das Kommen und Gehen meines zweiten Ich gewöhnt waren! Schnell hatte ich mir, so gut es ging, meine eigenen Kleider angezogen; schnell war ich durch das Haus gegangen, wo Bradshaw mit einem erstaunten Blick zurückfuhr, als er Herrn Hyde zu solcher Stunde und in einem so merkwürdigen Aufzug sah; und zehn Minuten später war Dr. Jekyll wieder in seine eigene Gestalt zurückgekehrt und hatte sich mit düsterer Stirn hingesetzt, um zum Schein etwas zu frühstücken.

Mein Appetit war in der Tat nur gering. Dieses unerklärliche Ereignis, eine Umkehrung des zuletzt von mir vorgenommenen Experimentes, schien mir, wie jener Finger bei dem Gastmahl in Babylon, die Worte meines Urteils an die Wand zu schreiben, und ich begann ernster denn je über die Möglichkeiten und das künftige Ende meines Doppellebens nachzudenken. Dieser Teil meines Ich, dem ich eine Gestalt zu geben die Macht besaß, hatte in der letzten Zeit viel Bewegung und Nahrung empfangen; es war mir schon seit kurzem vorgekommen, wie wenn der Körper Edward Hydes größer geworden wäre, wie wenn ich mir in dieser Gestalt eines lebhafteren Umlaufs meines Blutes bewußt gewesen wäre; und ich begann eine Gefahr zu wittern, daß bei längerer Fortdauer dieses Zustandes vielleicht das Gleichgewicht meiner Natur für immer umgeworfen werden könnte, so daß ich nicht mehr die Macht freiwilliger Veränderung besäße und der Charakter Edward Hydes unwiderruflich der meinige würde.

Die Kraft meines Tranks hatte sich nicht immer gleichmäßig bewährt. Einmal – ziemlich zu Anfang meiner neuen Laufbahn – war mir der Versuch gänzlich mißlungen; seitdem war ich bei mehr als einer Gelegenheit genötigt gewesen, den Trank zweimal zu mir zu nehmen; in einem Falle hatte ich ihn mit ungeheurer Lebensgefahr verdreifachen müssen; und diese, wenn auch selten eintretenden, Unsicherheiten hatten bisher den einzigen Schatten auf meine Zufriedenheit geworfen. Jetzt aber, im Lichte dieses Morgenerlebnisses mußte ich bemerken, daß nicht mehr wie im Anfang die Schwierigkeit darin bestand, den Körper Jekylls abzustreifen, sondern daß in der letzten Zeit ganz allmählich, aber deutlich die Schwierigkeit auf dem umgekehrten Wege sich gezeigt hatte. Mir schien daher aus allem dies hervorzugehen: ich verlor langsam die Herrschaft über mein ursprüngliches und besseres Ich und verkörperte mich langsam in mein zweites und schlechteres Ich.

Ich fühlte jetzt, daß ich zwischen diesen beiden zu wählen hatte. Meine beiden Naturen hatten das Gedächtnis gemeinsam, aber alle anderen Fähigkeiten waren sehr ungleich unter ihnen verteilt. Jekyll, der ein zusammengesetztes Wesen war, plante und teilte die Freuden und Abenteuer Hydes – bald in einer höchst unbehaglichen Angst, bald mit einem gierigen Behagen; aber Hyde war völlig gleichgültig Jekyll gegenüber oder erinnerte sich seiner nur, wie ein Räuber in den Bergen sich der Höhle erinnert, in der er sich vor Verfolgern verbirgt. Jekyll empfand für Hyde eine mehr als väterliche Liebe; Hyde für Jekyll die Gleichgültigkeit eines Sohnes.

Wählte ich Jekyll, so war ich tot für die Begierden, denen ich lange Zeit nur im geheimen nachgegeben, in denen ich aber in der letzten Zeit geschwelgt hatte. Wählte ich Hyde, so war ich tot für tausend Interessen und Bestrebungen und wurde mit einem Schlage und für ewig ein verachteter, freudloser Mensch. Der Handel konnte ungleich erscheinen; aber es fiel noch eine andere Betrachtung in die Wagschale: Während Jekyll die Flammen der Entsagung schmerzlich verspüren mußte, würde Hyde sich alles dessen, was er verloren hatte, nicht einmal bewußt sein.

So seltsam meine eigenen Umstände waren – dieser Widerstreit ist so alt und alltäglich, seitdem es Menschen gibt; ziemlich dieselben Verlockungen und Befürchtungen würfeln miteinander in jedem zitternden Sünder, der in Versuchung gerät. Und es ging mir, wie es der ungeheuren Mehrheit meiner Mitmenschen ergeht: ich erwählte das bessere Teil, und es zeigte sich, daß mir die Kraft fehlte, dabei zu verharren.

Ja, ich zog den ältlichen, innerlich unzufriedenen Doktor vor, der von Freunden umgeben war und sich ehrenhaften Hoffnungen hingab, und verzichtete entschlossen auf die Freiheit, die verhältnismäßige Jugend, den leichten Schritt, den stürmischen Pulsschlag und die geheimen Wonnen, die ich in der Verkleidung als Hyde genossen hatte. Ich traf diese Wahl vielleicht mit einem unbewußten Vorbehalt; denn ich gab weder das Haus in Soho auf, noch vernichtete ich die Kleider Edward Hydes, die stets in meinem Arbeitszimmer bereit lagen. Zwei Monate blieb ich jedoch meinem Entschluß treu; zwei Monate lang führte ich ein so streng ehrbares Leben, wie ich es früher niemals versucht hatte, und erfreute mich dafür des Lohnes eines zufriedenen Gewissens. Aber die Zeit begann schließlich mich den ausgestandenen Schreck vergessen zu lassen. Die Lobsprüche meines Gewissens wurden etwas selbstverständlich; ich wurde von drängenden Sehnsüchten gequält, wie wenn in mir Hyde nach Freiheit ränge; und endlich, in einer Stunde moralischer Schwachheit, braute und trank ich wieder das Verwandlungsmittel.

Wenn ein Trunkenbold bei sich selber über sein Laster nachdenkt, so denkt er wahrscheinlich nicht einmal unter fünfhundert Malen dabei an die Gefahren, die ihm aus seiner tierischen Gleichgültigkeit den körperlichen Folgen gegenüber entstehen können; so hatte auch ich, solange ich auch über meine Lage nachgedacht hatte, dabei nicht genügend in Betracht gezogen, daß die Hauptcharakterzüge Edward Hydes seine vollständige moralische Gleichgültigkeit und seine sinnlose Bereitschaft zum Bösen waren. Durch diese wurde ich bestraft. Mein Teufel war lange im Käfig gewesen und sprang nun mit Gebrüll hervor. Schon als ich den Trank schlürfte, fühlte ich eine zügellosere, wütendere Lust, Böses zu tun. Dies muß wohl in meiner Seele jenen Sturm von Ungeduld aufgerührt haben, mit welcher ich die höflichen Worte meines unglücklichen Opfers anhörte. Jedenfalls erkläre ich hiermit vor Gott: kein geistig gesunder Mensch hätte dieses Verbrechen aus so jämmerlichem Anlaß begehen können – ich hatte in jenem Augenblick nicht mehr Vernunft als ein krankes Kind, das sein Spielzeug zerbricht. Aber ich hatte freiwillig alle jene ausgleichenden Instinkte von mir abgestreift, dank denen selbst der böseste von uns Menschen immer noch mit einer gewissen Festigkeit durch seine Versuchungen hindurchgeht; in meinem Fall aber bedeutete eine Versuchung, war sie auch noch so gering, unvermeidliches Straucheln.

Im Nu erwachte in mir der Geist der Hölle und raste. In einem Überschwang von Entzücken zerschmetterte ich den wehrlosen Leib. Köstliche Wonne bereitete mir jeder Schlag; und erst als ich müde wurde, fuhr mir plötzlich, auf dem Höhepunkt meiner Raserei, ein kalter Schreckensschauder durch das Herz. Ein Nebel zerteilte sich: ich sah, daß mein Leben verwirkt war, und floh von dem Schauplatz meiner Ausschreitung, frohlockend und zugleich zitternd – meine Lust am Bösen war befriedigt und noch gesteigert, meine Liebe zum Leben aufs äußerste angespannt. Ich rannte nach dem Haus in Soho und vernichtete – um meine Sicherheit doppelt sicher zu machen – alle Papiere, die ich dort hatte. Dann lief ich durch die hellbeleuchteten Straßen in derselben zwiespältigen Aufregung meiner Seele, meines Verbrechens mich rühmend, leichtfertig Pläne für die Zukunft planend, und trotz alledem fliehend und fortwährend nach rückwärts auf die Schritte des Rächers lauschend. Hyde hatte ein Lied auf seinen Lippen, als er den Trank mischte, und er stürzte ihn auf das Wohl des Ermordeten hinunter! Die Schmerzen der Verwandlung hatten noch nicht aufgehört ihn zu zerreißen, als Henry Jekyll unter strömenden Tränen der Dankbarkeit und der Reue auf seine Knie fiel und seine gefalteten Hände zu Gott emporhob.

Der Schleier der Nachsicht mit mir selber war vom Kopf bis zu den Füßen zerrissen: ich sah mein Leben als ein Ganzes; ich verfolgte es von den Tagen der Kindheit an, als mein Vater mich an der Hand geführt hatte, durch die entsagungsvollen Mühen meiner Berufsarbeit hindurch, um immer und immer wieder mit dem gleichen Gefühl, daß es keine Wirklichkeit sei, zu den höllischen Schrecknissen des Abends zu gelangen. Ich hätte laut schreien mögen; mit Tränen und Gebeten suchte ich den Haufen häßlicher Bilder und Klänge niederzuhalten, die aus meiner Erinnerung auf mich losstürmten; aber immer wieder, zwischen meinen Gebeten, starrte mir das gräßliche Antlitz meiner Missetat in die Seele. Als diese Gewissensbisse an Schärfe zu verlieren begannen, folgte ihnen ein Gefühl der Freude. Das Problem meiner Lebensführung war erlöst: Hyde war fortan unmöglich; ob ich wollte oder nicht, ich war jetzt auf das bessere Teil meines Daseins beschränkt – und oh! welche Wonne war dieser Gedanke! Mit welcher willfährigen Demut fügte ich mich von neuem in die Grenzen und Schranken des natürlichen Lebens! Mit welchem aufrichtigen Verzicht verschloß ich die Tür, durch die ich so oft gegangen und gekommen war, und zertrat den Schlüssel mit meinen Füßen!

Am nächsten Tage kam die Nachricht, daß der Mord eine Zuschauerin gehabt hatte, daß Hydes Schuld der Welt bekannt war, und daß das Opfer ein Mann war, der hoch im öffentlichen Ansehen stand. Es war nicht allein ein Verbrechen – es war ein tragischer Wahnsinn gewesen.

Ich glaube, ich war froh, dies zu wissen; ich glaube, ich war froh darüber, daß meine besseren Antriebe jetzt hinter den Schrecknissen des Schafotts wie hinter Befestigungswerken lagen. Jekyll war jetzt meine Zitadelle, mein sicherer Zufluchtsort; sobald Hyde einen Augenblick hervorlugte, würden die Hände aller Menschen sich erheben und ihn töten.

Ich beschloß, durch meine künftige Lebensführung die Vergangenheit wieder gutzumachen; und ich darf ehrlich sagen, daß mein Entschluß einige gute Früchte gezeitigt hat. Du weißt selber, wie ernst ich in den letzten Monaten vorigen Jahres mich bemühte, Leiden zu lindern; Du weißt, daß viel für andere getan wurde, und daß mir die Tage ruhig, beinahe glücklich dahingingen. Ich kann auch nicht behaupten, daß ich dieses wohltätigen, unschuldigen Lebens überdrüssig wurde; ich glaube im Gegenteil, daß ich es von Tag zu Tag freudiger empfand. Aber auf mir lag immer noch der Fluch der Zwiespältigkeit meines Wollens; und als die erste Schärfe meiner Reue abgestumpft war, begann meine niedrigere Natur, der ich so lange nachgegeben und die ich erst seit so kurzer Zeit in Fesseln gelegt hatte, murrend nach Freiheit zu verlangen. Nicht, daß ich davon geträumt hätte, Hyde wieder auferstehen zu lassen – der bloße Gedanke daran brachte mich zum Wahnsinn: nein, in meiner eigenen Persönlichkeit fühlte ich wieder die Versuchung, mit meinem Gewissen zu markten, und wie ein gewöhnlicher geheimer Sünder fiel ich zuletzt vor dem Eingreifen der Versuchung.

Jedes Ding nimmt einmal ein Ende; das geräumigste Maß wird schließlich voll, und dieser kurze Augenblick einer Nachgiebigkeit für das Böse vernichtete endgültig das Gleichgewicht meiner Seele. Trotzdem war ich darüber nicht unruhig in mir; daß ich gefallen war, schien natürlich zu sein; gewissermaßen eine Rückkehr zu den alten Tagen, bevor ich meine Entdeckung gemacht hatte.

Es war ein schöner, klarer Januartag; der aufgetaute, bisher gefroren gewesene Boden war feucht, aber der Himmel droben war wolkenlos; Regents Park war voll von würzigem Frühlingsduft. Ich saß in der Sonne auf einer Bank; das Tier in mir leckte die abgenagten Knochen der Erinnerung; das Geistige in mir schlummerte ein wenig, künftige Reue versprechend, aber noch nicht geneigt, diese zu beginnen. Im Grunde, so dachte ich bei mir, war ich doch nur wie alle meine Nachbarn. Und dann lächelte ich, indem ich mich selber mit anderen Menschen verglich: meinen tätigen Willen zum Guten mit der trägen Grausamkeit ihrer Nachlässigkeit! Und gerade in dem Augenblick dieses selbstgefälligen Denkens befiel mich ein Schwindel, eine fürchterliche Übelkeit und ein tödliches Schaudern. Dies ging vorüber und es blieb nur eine Schwäche; und als dann auch dieses Gefühl der Schwäche aufhörte, begann ich zu merken, daß mein Denken sich geändert hatte: ich empfand eine größere Kühnheit, eine Verachtung jeder Gefahr, eine Befreiung aus den Banden der Pflicht. Ich sah an mir herab; meine Kleider hingen unförmlich um meine zusammengeschrumpften Glieder; die Hand, die auf meinem Knie lag, war dickaderig und haarig. Ich war wieder Edward Hyde.

Einen Augenblick zuvor war ich der Achtung aller Menschen sicher gewesen, ein reicher, geliebter Mann – in meinem Eßzimmer zu Hause stand der Tisch für mich gedeckt. Und jetzt war ich ein Wild, das alle Menschen verfolgten – gehetzt, heimatslos, ein bekannter Mörder, der dem Galgen gehörte.

Meine Vernunft wankte, aber sie ließ mich nicht gänzlich im Stich. Ich habe mehr als einmal bemerkt, daß in meinem zweiten Ich meine Fähigkeiten haarscharf zugespitzt zu sein schienen, daß mein Geist elastischer gespannt war. So kam es, daß in einem Augenblick, wo Jekyll vielleicht unterlegen sein würde, Hyde sich auf die Höhe des Ereignisses erhob.

Meine Drogen befanden sich in einem der Glasschränke meines Arbeitszimmers. Wie konnte ich sie bekommen? Dies war das Problem, das ich zu lösen mich entschloß, indem ich meine Hände an die Schläfen preßte.

Die Laboratoriumstür hatte ich verschlossen. Wenn ich durch mein eigenes Haus in das Arbeitszimmer zu kommen versuchte, würden meine Dienstboten mich an den Galgen liefern. Ich sah, daß ich mich eines Vermittlers bedienen müßte, und dachte an Lanyon. Wie konnte ich diesen erreichen? wie ihn überreden? Angenommen, daß ich der Verhaftung auf der Straße entging, wie konnte ich zu ihm persönlich kommen? Und wie sollte ich, ein unbekannter, abstoßend aussehender Besucher, den berühmten Arzt dahin bringen, in das Studierzimmer seines Kollegen Dr. Jekyll einzubrechen? Dann erinnerte ich mich, daß von meinem ursprünglichen Ich ein Teil stets mir geblieben war: Ich konnte in meiner eigenen Hand schreiben; und sobald ich diesen Funken hatte aufzucken sehen, lag der Weg, den ich zu gehen hatte, vom Anfang bis zum Ende hell erleuchtet vor mir.

Demgemäß machte ich meine Kleider zurecht, so gut ich konnte, rief einen vorüberfahrenden Hansom an und fuhr nach einem Gasthof in Portland Street, dessen Name mir zufällig einfiel. Der Kutscher konnte seine Heiterkeit nicht zurückhalten, als er mich ansah – und mein Aussehen war in der Tat komisch genug, so tragisch auch das Schicksal war, das diese Kleider verhüllten. Ich fletschte in einem Anfall teuflischer Wut meine Zähne gegen ihn, und das Lächeln erstarb auf seinem Gesicht – zum Glück für ihn, aber zu noch größerem Glück für mich selbst, denn im nächsten Augenblick hätte ich ihn sicherlich von seinem Bock heruntergerissen.

Als ich in den Gasthof eintrat, blickte ich mit einem so finsteren Gesicht um mich, daß die Kellner zitterten; keinen Blick wechselten sie in meiner Gegenwart, sondern empfingen dienstbereit meine Befehle, führten mich in ein Zimmer und brachten mir Schreibzeug.

Hyde in Lebensgefahr war ein neues Geschöpf für mich: von unbändigem Zorn geschüttelt, bis zur Mordlust aufgeregt und danach lechzend, Schmerzen zu bereiten. Aber das Geschöpf war auch schlau: es meisterte seine Wut mit einer großen Willensanstrengung, verfaßte die beiden wichtigen Briefe, einen an Lanyon und einen an Poole; und um einen schriftlichen Beweis zu erhalten, daß sie der Post übergeben wären, gab er Auftrag, sie einschreiben zu lassen.

Sodann saß er den ganzen Tag am Kaminfeuer in seinem Zimmer und kaute an seinen Nägeln. Auf seinem Zimmer speiste er auch, allein mit seinen Ängsten, während der Kellner sichtbar vor seinen Augen zitterte. Und dann, als die Nacht vollkommen angebrochen war, setzte er sich in die Ecke einer geschlossenen Droschke und ließ sich kreuz und quer in den Straßen der City herumfahren. Er, sage ich – ich kann nicht sagen: Ich. Dieses Kind der Hölle hatte nichts Menschliches; in ihm lebte nichts als Furcht und Haß. Und als er zuletzt, weil er glaubte, der Kutscher finge an argwöhnisch zu werden, die Droschke bezahlte und zu Fuß sich weiterwagte, in seinen schlechtsitzenden Kleidern eine auffällige Erscheinung inmitten der nächtlichen Passanten, da rasten diese beiden niedrigen Leidenschaften in ihm wie ein Sturm. Er ging schnell, von seinen Ängsten gehetzt, mit sich selber sprechend, durch die weniger belebten Nebenstraßen sich drückend und die Minuten zählend, die ihn noch von der Mitternachtsstunde trennten. Einmal sprach ein Weib ihn an – ich glaube, sie wollte ihm Streichhölzer verkaufen. Er schlug ihr ins Gesicht, und sie rannte davon.

Als ich bei Lanyon wieder zu mir kam, ging das Entsetzen meines alten Freundes mir vielleicht zu Herzen – ich weiß es nicht – es war höchstens nur wie ein Tropfen im Meere, im Vergleich mit dem Grausen, womit ich auf diese Stunden zurückblickte. Eine Veränderung war über mich gekommen, mich quälte nicht länger die Furcht vor dem Galgen, sondern der entsetzliche Gedanke, daß ich Hyde sei. Ich hörte Lanyons Worte, die mich verdammten, wie in einem halben Traum; wie in einem halben Traum betrat ich mein eigenes Haus und legte mich zu Bett. Nach der Anstrengung des Tages schlief ich so fest und tief, daß nicht einmal die Schreckgespenster, die mich verfolgten, mich aufwecken konnten. Am Morgen erwachte ich erschüttert, geschwächt, aber doch erfrischt. Ich haßte und fürchtete immer noch jeden Gedanken an das Tier, das in mir schlief, und ich hatte natürlich nicht die entsetzlichen Gefahren des vorigen Tages vergessen; aber ich war doch wieder zu Hause, in meinem eigenen Heim und ganz in der Nähe meiner Drogen – und Dankbarkeit für meine Rettung leuchtete so stark in meiner Seele, daß sie beinahe wie helle Hoffnung glänzte.

Nach dem Frühstück schritt ich gemächlich über den Hof, mit Vergnügen die kalte Winterluft einschlürfend – da packten mich wieder jene unbeschreiblichen Empfindungen, die die Vorboten der Veränderung waren, und ich hatte gerade nur die Zeit, das Obdach meines Arbeitszimmers zu erreichen, da rasten und wüteten wieder die Leidenschaften Hydes in mir. Und ich war wieder Hyde.

Ich nahm bei dieser Gelegenheit eine doppelte Dosis, um mich wieder zu mir selber zu bringen; und ach! sechs Stunden später, als ich am Kamin saß und traurig in das Feuer sah, kamen die Schmerzen wieder, und ich mußte abermals den Trank anwenden.

Kurz, von jenem Tage an war ich anscheinend nur durch eine große Anstrengung und unter der unmittelbaren Wirkung des Trankes imstande, die körperliche Gestalt Jekylls festzuhalten. Zu allen möglichen Stunden des Tages oder der Nacht ergriff mich das bedeutsame Schütteln; vor allem wenn ich schlief oder auch nur für einen Augenblick in meinem Lehnstuhl druselte, wachte ich stets als Hyde auf. Dieses beständig drohende Elend und die Schlaflosigkeit, zu der ich mich selber verurteilte, und die weit über die Grenzen hinausging, die ich für menschenmöglich gehalten hatte, machten aus mir ein von Fieber völlig ausgezehrtes Geschöpf, schwach an Leib und Verstand und nur mit dem einzigen Gedanken beschäftigt: dem Grausen vor meinem anderen Ich. Aber wenn ich schlief, oder wenn die Wirksamkeit der Arznei nachließ, sprang ich fast ohne Übergang – denn die Schmerzen bei der Verwandlung wurden von Tag zu Tag geringer – in den Bereich meiner Phantasie, die von Schreckensbildern wimmelte – meine Seele kochte von grundlosem Haßgefühl, und mein Körper schien nicht stark genug zu sein, die rasenden Lebenskräfte zu bändigen. Hydes Kräfte schienen mit Jekylls kränklicher Schwäche gewachsen zu sein. Und sicherlich war der Haß, der sie jetzt schied, auf beiden Seiten gleich. Bei Jekyll war dies ein Ding triebmäßiger Lebensbetätigung. Er hatte jetzt die ganze Mißgestaltung jenes Geschöpfes gesehen, das mit ihm einige von den Erscheinungsformen des Bewußtseins gemeinsam hatte und wie er Erbe des Todes war – und über diese gemeinsamen Bande hinaus, die eben als solche gerade das bitterste Teil meines Elends waren, erschien ihm Hyde, trotz aller seiner Lebenskraft, als etwas nicht nur Höllisches, sondern Unorganisches.

Dies war das Schreckliche: daß aus dem Schlamm der Hölle nicht nur Schreie und Stimmen zu kommen schienen; daß der gestaltlose Staub Glieder bewegte und sündigte; daß das, was tot war und keine Gestalt hatte, sich die Äußerungen des Lebens anmaßte. Und dann auch dies: daß jenes rebellische Entsetzen ihn enger umklammerte als ein Weib, daß es wie ein Auge in ihm lag; daß es in sein Fleisch wie in einen Käfig eingesperrt war, wo er es murren hörte, es um sich schlagen fühlte, wie wenn es geboren werden wollte; und daß es in jeder Stunde der Schwachheit, in jedem Augenblick, sobald er sich vertrauensvoll dem Schlummer überließ, sich gegen ihn auflehnte und ihn vom Thron des Lebens herabstieß.

Hydes Haß gegen Jekyll war von einer anderen Art: seine Angst vor dem Galgen trieb ihn beständig dazu, zeitweiligen Selbstmord zu begehen und in seinen untergeordneten Zustand zurückzukehren, worin er ein Teil eines ganzen Menschen war. Aber er fluchte dieser Notwendigkeit, er fluchte der Schwäche, in die Jekyll jetzt versunken war, und er empfand als eine Beschimpfung den Abscheu, womit Jekyll ihn selber ansah. Daher die äffischen Streiche, die er mir fortwährend spielte, indem er mit meiner eigenen Handschrift Gotteslästerungen auf die Seiten meiner Bücher kritzelte, die Briefe meines Vaters verbrannte und dessen Bild zerriß. Und in der Tat: wäre nicht seine Furcht vor dem Tode gewesen, er hätte sich schon längst selber vernichtet, um mich in die Vernichtung hineinzuziehen. Aber seine Liebe zum Leben ist wunderbar. Ich gehe noch weiter: ich, der ich von dem bloßen Gedanken an ihn Übelkeit verspüre und schaudere, wenn ich an die leidenschaftliche verächtliche Anklammerung ans Leben denke, die ihm eigen ist – ich entdecke in meinem Herzen Mitleid für ihn, da ich weiß, wie er sich vor meiner Macht fürchtet, durch Selbstmord auch ihn ums Leben zu bringen.

Es hat keinen Zweck, und schrecklicherweise fehlt mir auch die Zeit, diese Schilderung noch zu verlängern. Es genüge, wenn ich sage: kein Mensch hat jemals solche Qualen gelitten. Und doch, die Gewohnheit – ich will nicht sagen, daß sie erleichterte, aber sie führte eine gewisse Unempfindlichkeit der Seele herbei, eine Art von Abfindung mit meiner Verzweiflung; und meine Strafe hätte noch jahrelang andauern können, wenn nicht jetzt das letzte Unglück eingetroffen wäre, das mich endgültig von meinem eigenen Antlitz und von meiner eigenen Natur getrennt hat.

Mein Vorrat jenes Salzes, den ich seit meinem ersten Versuch niemals ergänzt hatte, begann knapp zu werden. Ich ließ einen neuen Vorrat holen und mischte den Trank; es folgte das Aufbrausen, sodann der erste Wechsel der Farbe, aber nicht der zweite. Ich trank das Gemisch, und es war unwirksam.

Du wirst von Poole erfahren, wie ich ganz London durchstöbert habe; es war vergeblich; und ich bin jetzt überzeugt, daß jenes erste Salz unrein war, und daß gerade jene unbekannte Unreinheit den Trank wirksam machte.

Ungefähr eine Woche ist vergangen, und ich beendigte jetzt diesen Bericht unter dem Einfluß des letzten von den alten Pulvern. Dies also ist das letztemal – fast ein Wunder! – daß Henry Jekyll seine eigenen Gedanken denken oder sein eigenes (jetzt wie traurig verändertes!) Antlitz im Spiegel sehen kann. Ich darf auch nicht zu lange zögern, mein Schreiben zum Ende zu bringen; denn wenn mein Bericht bis jetzt der Vernichtung entgangen ist, so geschah dies nur durch ein Zusammentreffen großer Vorsicht und sehr glücklichen Zufalls. Sollten die Wehen der Verwandlung mich packen, während ich schreibe, so würde Hyde diesen Bericht in Stücke reißen; wenn aber einige Zeit vergangen ist, nachdem ich ihn auf die Seite gelegt habe, wird wahrscheinlich seine erstaunliche Selbstsucht und seine Beschränkung auf den Augenblick diese Schrift wieder einmal vor der Betätigung seiner äffischen Wut retten.

In der Tat: das Verhängnis, das sich immer tiefer auf uns beide herabsenkt, hat ihn bereits verändert und geduckt. Wenn ich in einer halben Stunde wiederum und für immer seine verhaßte Gestalt annehme, dann werde ich, das weiß ich, schaudernd und weinend in meinem Stuhl sitzen, oder mit gespanntem, ängstlichem Horchen in diesem Zimmer auf und ab laufen, das meine letzte irdische Zuflucht ist, ich werde auf jedes drohende Geräusch lauschen.

Wird Hyde am Galgen sterben? Oder wird er den Mut finden, im letzten Augenblick sich selber zu befreien? Das weiß Gott. Mir ist es gleichgültig.

Dies ist meine wahre Todesstunde, und was noch folgen wird, das geht einen anderen an als mich. Und so lege ich denn jetzt die Feder nieder, versiegele meine Beichte und bringe damit das Leben des unglücklichen Henry Jekyll zum Ende.


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