Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde: Der Mord (4/10)

Fast ein Jahr später, im Oktober des Jahres 18.., wurde London durch ein Verbrechen von außergewöhnlicher Grausamkeit in Aufregung versetzt, die durch die hohe gesellschaftliche Stellung des Opfers noch vermehrt wurde. Die Einzelheiten waren fürchterlich. Ein Dienstmädchen, das sich in einem Hause nicht weit von der Themse allein befand, war ungefähr um elf Uhr in ihr Schlafzimmer hinaufgegangen. Obwohl einige Stunden später die City in dichten Nebel gehüllt war, war der Himmel in dieser frühen Nachtzeit wolkenlos, und die schmale Gasse, auf die das Fenster des Dienstmädchenzimmers hinausging, war vom Vollmond hell erleuchtet. Sie war, wie es schien, romantisch veranlagt, denn sie setzte sich auf ihren Koffer, der unmittelbar unter dem Fenster stand, und versank in eine Träumerei. Nie – so sagte sie jedesmal unter strömenden Tränen, wenn sie ihre Erlebnisse erzählte – hatte sie sich so in Frieden mit allen Menschen gefühlt und freundlicher von der Welt gedacht. Und wie sie so saß, bemerkte sie einen schönen alten Herrn mit weißen Haaren, der sich in der Gasse näherte, und ihm entgegengehend einen anderen, sehr kleinen Herrn, auf den sie weniger achtete. Als die beiden Herren in Sprechnähe kamen – was gerade unmittelbar unter dem Fenster des Mädchens geschah –, machte der Ältere eine Verbeugung und sprach den anderen auf sehr liebenswürdige und höfliche Weise an. Es schien sich dabei um nichts besonders Wichtiges zu handeln; aus seinen Handbewegungen ging anscheinend hervor, daß er sich nur nach dem Weg erkundigte; aber der Mond beschien sein Gesicht, als er sprach, und das Mädchen hatte ihre Freude daran, dieses Gesicht zu beobachten: es strahlte eine so unschuldige, etwas altfränkische Herzensgüte davon aus, zugleich aber auch lag etwas gewissermaßen Erhabenes darauf, wie ein Ausdruck von wohlbegründeter Selbstzufriedenheit. Plötzlich fiel ihr Blick auf den anderen, und sie erkannte in ihm zu ihrer Überraschung einen gewissen Herrn Hyde, der ihren Herrn einmal besucht und gegen den sie sofort eine Abneigung empfunden hatte. Er hielt in seiner Hand einen schweren Stock, mit welchem er Lufthiebe schlug; aber er antwortete kein einziges Wort und schien mit schlecht verhehlter Ungeduld den alten Herrn anzuhören. Und dann bekam er ganz plötzlich einen furchtbaren Wutanfall, stampfte mit dem Fuß auf, schwang seinen Stock und stürzte – so beschrieb das Mädchen es – wie ein Wahnsinniger vorwärts. Der alte Herr trat mit einem Ausdruck höchster Überraschung, und gleichzeitig offenbar etwas beleidigt, einen Schritt zurück; da verlor dieser Herr Hyde auf einmal alle Selbstbeherrschung und schlug ihn zu Boden. Und im nächsten Augenblick trat er mit einer affenähnlichen Wut sein Opfer unter die Füße und ließ einen Sturm von Hieben auf ihn herniederhageln, unter denen der Schädel hörbar zerschmettert wurde und der Körper auf dem Straßenpflaster emporsprang. Bei diesem gräßlichen Anblick und bei diesen furchtbaren Tönen fiel das Mädchen in Ohnmacht.

Es war zwei Uhr, als sie wieder zu sich kam und nach der Polizei lief. Der Mörder war längst verschwunden; aber sein Opfer lag mitten in der kleinen Gasse, auf eine unglaubliche Weise verstümmelt. Der Stock, mit dem die Untat vollbracht war, war von der Gewalt der in sinnloser Wut geführten Hiebe mitten entzweigebrochen, obgleich er von sehr zähem und schwerem Holz war; und die eine zersplitterte Hälfte war in den nahen Rinnstein gerollt – die andere hatte der Mörder ohne Zweifel mitgenommen. Eine Geldbörse und eine goldene Uhr wurden in den Kleidern des Erschlagenen gefunden, aber keine Karten oder Papiere, außer einem versiegelten und mit der Marke beklebten Brief, den er wahrscheinlich nach der Post hatte bringen wollen, und der den Namen und die Wohnung des Herrn Utterson aufwies.

Dieser Brief wurde dem Anwalt am nächsten Morgen gebracht, bevor er aufgestanden war; und kaum hatte er ihn gesehen und die näheren Umstände vernommen, so schob er mit sehr ernster Miene die Oberlippe vor und sagte:

»Ich will nichts sagen, bevor ich die Leiche gesehen habe; es ist vielleicht eine sehr ernste Sache. Haben Sie die Güte zu warten, während ich mich anziehe.«

Mit demselben ernsten Gesicht frühstückte er hastig und fuhr dann nach der Polizeiwache, wohin die Leiche gebracht worden war. Sobald er die Zelle betrat, nickte er und sagte:

»Ja, ich erkenne ihn. Ich muß mit großem Bedauern sagen, es ist Sir Danvers Carew.«

»Gütiger Gott, Herr Utterson!« rief der Beamte, »ist es möglich?« Und im nächsten Augenblick funkelte Berufseifer aus seinen Blicken, und er sagte:

»Das wird einen großen Lärm machen! Und vielleicht können Sie uns helfen, den Mann zu fassen.«

Dann erzählte er in aller Kürze, was das Mädchen gesehen hatte, und zeigte den zerbrochenen Stock.

Utterson hatte bereits einen Seufzer ausgestoßen, als er den Namen Hyde hörte; als ihm aber der Stock vorgelegt wurde, konnte er nicht länger zweifeln: obwohl er zerbrochen und zersplittert war, erkannte er in ihm sofort einen Stock, den er selber vor vielen Jahren seinem Freunde Henry Jekyll geschenkt hatte.

»Ist dieser Herr Hyde ein Mann von kleinem Wuchs?« fragte er.

»Auffallend klein und mit einem auffallend gemeinen Gesichtsausdruck; so beschreibt ihn das Mädchen,« sagte der Beamte.

Utterson dachte einen Augenblick nach; dann hob er den Kopf und sagte:

»Wenn Sie mich in meinem Wagen begleiten wollen, so kann ich Sie, glaube ich, nach seiner Wohnung bringen.«

Es war inzwischen ungefähr neun Uhr morgens geworden, und auf den Straßen lag der erste Londoner Herbstnebel. Eine dichte schokoladenbraune Dunstmasse hing vom Himmel herab, aber der Wind machte fortwährend Angriffe auf die wogenden Massen, so daß Utterson, während der Wagen langsam von Straße zu Straße fuhr, eine wunderbare Menge aller möglichen Abstufungen von Zwielicht beobachten konnte: an der einen Stelle war es dunkel wie am späten Abend; dann wieder leuchtete ein feuriges Braun, wie wenn eine seltsame Feuersbrunst loderte; dann wieder war für einen kurzen Augenblick der Nebel ganz verjagt, und ein blasses Tageslicht brach durch die wirbelnden Dunstmassen hindurch. Die elenden, schmutzigen Straßen von Soho mit ihren kotigen Fahrdämmen, ihren schlumpigen Passanten, ihren Laternen, die gar nicht ausgelöscht oder am Morgen wieder angezündet worden waren, um diesen plötzlichen Überfall trauriger Finsternis zu bekämpfen, erschienen in dieser wechselnden Beleuchtung den Augen des Anwalts wie ein Stadtviertel, wie man es wohl in einem schweren Traum sieht, wenn einen der Alp drückt. Auch seine Gedanken waren von düsterster Farbe; und wenn er einen Blick auf seinen Fahrtgenossen warf, empfand er etwas von jenem Grausen vor dem Gesetz und vor den Vollziehern des Gesetzes, das zuweilen auch wohl den ehrenwertesten Menschen überkommen mag.

Als der Wagen vor dem dem Kutscher bezeichneten Hause anhielt, verzog der Nebel sich ein bißchen und zeigte ihm eine schmutzige Straße, einen Schnapspalast, eine billige französische Speisewirtschaft, einen Laden, worin Penny-Zeitschriften und Zwei-Penny-Salate verkauft wurden, viele zerlumpte Kinder, die sich in den Torwegen balgten, und viele Weiber von allen möglichen Nationalitäten, die mit dem Schlüssel in der Hand ausgingen, um einen Morgenschnaps zu trinken; und im nächsten Augenblick senkte der Nebel sich wieder bernsteinbraun auf diese Gegend herab und verhüllte ihm die gemeine Umgebung. Hier war das Heim von Henry Jekylls Liebling – einem Mann, der eine viertel Million Pfund Sterling erben sollte!

Eine alte Frau mit elfenbeingelbem Gesicht und silberweißem Haar öffnete die Tür. Ihr Antlitz trug einen Ausdruck von Verworfenheit, der durch Heuchelei gemildert war; aber ihre Manieren waren ausgezeichnet.

Ja, sagte sie, Herr Hyde wohne hier, sei aber nicht zu Hause; er sei diese Nacht sehr spät nach Hause gekommen, aber schon nach einer knappen Stunde wieder fortgegangen; dies sei indessen durchaus nicht auffallend, denn er habe sehr unregelmäßige Gewohnheiten und komme oft gar nicht nach Hause; so sei es zum Beispiel gestern fast zwei Monate her gewesen, seitdem sie ihn zum letztenmal gesehen habe.

»Nun schön – wir wünschen seine Wohnung zu sehen!« sagte der Anwalt; und als die Frau zu erklären begann, dies sei unmöglich, fuhr er fort:

»Ich sage Ihnen am besten gleich, wer der Herr hier ist: es ist Inspektor Newcomen von Scotland Yard.«

Ein widerlicher Freudenstrahl erschien auf dem Gesicht der Frau.

»Ah!« rief sie; »er ist im Druck! Was hat er getan?«

Utterson und der Inspektor tauschten einen Blick aus.

»Der Herr scheint nicht sehr beliebt zu sein,« bemerkte der letztere. »Und nun, meine gute Frau, lassen Sie mal mich und diesen Herrn uns die Wohnung hier ansehen.«

Von den sämtlichen Zimmern des Hauses, das, abgesehen von der alten Frau, völlig unbewohnt war, hatte Hyde nur zwei benutzt; aber diese beiden Zimmer waren mit Luxus und gutem Geschmack eingerichtet.

Ein Wandschrank war mit Weinen gefüllt; das Eßgeschirr war von Silber, die Tischwäsche elegant. An der einen Wand hing ein gutes Gemälde, ein Geschenk – wie Utterson vermutete – von Henry Jekyll, der ein ausgezeichneter Kunstkenner war. Die Teppiche waren dick und gefielen durch angenehme Farbenzusammenstellungen.

In diesem Augenblick boten allerdings die beiden Zimmer alle Anzeichen, daß sie kurz vorher in großer Hast durchstöbert worden waren; auf dem Boden lagen Kleider herum, deren Taschen herausgezogen waren; verschließbare Schubfächer standen offen; und im Kamin lag ein Haufen grauer Asche, wie wenn viele Papiere verbrannt worden wären.

Aus dieser Asche zog der Inspektor, nachdem er drin herumgestochert hatte, die Rückenseite eines grünen Scheckbuchs hervor, die der Einwirkung des Feuers widerstanden hatte.

Hinter der Tür wurde die andere Hälfte des Spazierstocks gefunden; und da dieser Fund seinen Verdacht bestätigte, war der Beamte ganz entzückt und sprach das mit vielen Worten aus.

Ein Besuch auf der Bank, wo mehrere tausend Pfund als Guthaben des Mörders festgestellt wurden, vervollständigte die Untersuchung und die Befriedigung des Kriminalinspektors.

»Sie können sich drauf verlassen, Herr Utterson,« sagte er zum Anwalt, »ich habe ihn in meiner Hand! Er muß den Kopf verloren haben – sonst würde er niemals den Stock hiergelassen haben; vor allem hätte er nicht das Scheckbuch verbrannt. Herrgottnochmal, Geld bedeutet für den Mann einfach das Leben! Wir brauchen weiter nichts zu tun, als im Bankgebäude auf ihn zu warten und ihm die Handschellen anzulegen.«

Dies letztere war jedoch nicht so leicht ausgeführt; denn Herr Hyde hatte wenig Bekannte gehabt – auch der Herr des Dienstmädchens hatte ihn überhaupt nur zweimal gesehen. Von Angehörigen des Mörders konnte nirgends auch nur eine Spur aufgefunden werden. Photographieren hatte er sich niemals lassen. Und die wenigen, die ihn beschreiben konnten, wichen in ihren Beschreibungen weit voneinander ab, wie es bei den Aussagen von Durchschnittsbeobachtern der Fall zu sein pflegt.

Nur in einem einzigen Punkt stimmten alle überein: daß der Flüchtling auf jeden, der ihn gesehen, einen gespenstigen Eindruck einer unerklärlichen Mißgestaltung gemacht hatte.


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